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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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seinem Vater Paul zum Katholicismus hinneigte; nachher ging er
vom Mysticismus zu einem religiösen und politischen Liberalismus
über; und in den letzten Jahren seines Lebens endlich hatte sich eine
unerklärliche, melancholische Sehnsucht seiner Seele bemächtigt. Eben
so mannigfach wechselnd war seine Politik. Erst den dringenden
Bitten Englands nachgebend, führt er unermüdlichen Krieg mit
Frankreich; obgleich bei Austerlitz geschlagen, rückt er bei Eylau und
Friedland nochmals in's Feld und wird ein zweites und drittes
Mal besiegt. Darauf voll Bewunderung für Napoleon drückt er in
Tilsit mit Herzlichkeit die mächtige Hand des Eroberers. Später dann
ward Alexander wiederum ein Vasall Englands und ein unversöhnlicher
Feind des französischen Kaisers; er ward die Seele des Wiener
Congresses. Innerhalb seines eigenen Reiches, das gute, wie böse
Eindrücke lediglich von seiner Hand erhielt, zeigte sich der Nachtheil
dieses schwankenden Charakters des Kaisers Alerander noch deutli¬
cher. Rußland befand sich nach den Erschütterungen von 1815 in
einem gefährlicheren Zustande, als mancher andere Staat Europas.
In den höhern Ständen war das Familiengefühl, das einzige, das
diese Kreise der Gesellschaft an den Kaiser bindet, gelockert und ge¬
schwächt: daher entstanden in allen Ecken des weiten Reiches Ver¬
schwörungen; aber alle hatten sie nur einen negativen Zweck, näm¬
lich die Zerstörung der Dynastie, und da Nußland im Kaiser perso-
nificirt ist, also auch des Staates selbst; ein abscheuliches Gefühl
der nacktesten Selbstsucht und der gräßlichsten Anarchie belebte all
diese vornehmen Verschworenen. Man tanzte damals in Nußland
nicht minder auf einem Vulcan, als 1830 in Fankreich. Zu diesen
Gefahren von innen gesellten sich nun noch andere von außen. Eng¬
land, eifersüchtig auf Rußlands Macht, erregte ihm überall Feinde,
in Asten war es Persien, in Europa und in Asien die Türkei.
Diese schwierige Lage ward noch verwickelter durch die Unsicherheit
der Thronfolge. Constantin's Entsagung war nicht öffentlich bekannt
gemacht worden; nach dem Tode Alerander's konnten sich daher die
Verschwörer, um die Armee auf ihre Seite zu bringen, als die
Vertheidiger des rechtmäßigen Czaren ausgeben, dessen Rechte ver¬
letzt seien; Nikolaus selbst, der sofort, als die Nachricht von Aleran¬
der's Tode ans Taganrog nach Petersburg gekommen war, die Zü¬
gel des Reichs ergrissen hatte, ließ sich erst am Meer December,


seinem Vater Paul zum Katholicismus hinneigte; nachher ging er
vom Mysticismus zu einem religiösen und politischen Liberalismus
über; und in den letzten Jahren seines Lebens endlich hatte sich eine
unerklärliche, melancholische Sehnsucht seiner Seele bemächtigt. Eben
so mannigfach wechselnd war seine Politik. Erst den dringenden
Bitten Englands nachgebend, führt er unermüdlichen Krieg mit
Frankreich; obgleich bei Austerlitz geschlagen, rückt er bei Eylau und
Friedland nochmals in's Feld und wird ein zweites und drittes
Mal besiegt. Darauf voll Bewunderung für Napoleon drückt er in
Tilsit mit Herzlichkeit die mächtige Hand des Eroberers. Später dann
ward Alexander wiederum ein Vasall Englands und ein unversöhnlicher
Feind des französischen Kaisers; er ward die Seele des Wiener
Congresses. Innerhalb seines eigenen Reiches, das gute, wie böse
Eindrücke lediglich von seiner Hand erhielt, zeigte sich der Nachtheil
dieses schwankenden Charakters des Kaisers Alerander noch deutli¬
cher. Rußland befand sich nach den Erschütterungen von 1815 in
einem gefährlicheren Zustande, als mancher andere Staat Europas.
In den höhern Ständen war das Familiengefühl, das einzige, das
diese Kreise der Gesellschaft an den Kaiser bindet, gelockert und ge¬
schwächt: daher entstanden in allen Ecken des weiten Reiches Ver¬
schwörungen; aber alle hatten sie nur einen negativen Zweck, näm¬
lich die Zerstörung der Dynastie, und da Nußland im Kaiser perso-
nificirt ist, also auch des Staates selbst; ein abscheuliches Gefühl
der nacktesten Selbstsucht und der gräßlichsten Anarchie belebte all
diese vornehmen Verschworenen. Man tanzte damals in Nußland
nicht minder auf einem Vulcan, als 1830 in Fankreich. Zu diesen
Gefahren von innen gesellten sich nun noch andere von außen. Eng¬
land, eifersüchtig auf Rußlands Macht, erregte ihm überall Feinde,
in Asten war es Persien, in Europa und in Asien die Türkei.
Diese schwierige Lage ward noch verwickelter durch die Unsicherheit
der Thronfolge. Constantin's Entsagung war nicht öffentlich bekannt
gemacht worden; nach dem Tode Alerander's konnten sich daher die
Verschwörer, um die Armee auf ihre Seite zu bringen, als die
Vertheidiger des rechtmäßigen Czaren ausgeben, dessen Rechte ver¬
letzt seien; Nikolaus selbst, der sofort, als die Nachricht von Aleran¬
der's Tode ans Taganrog nach Petersburg gekommen war, die Zü¬
gel des Reichs ergrissen hatte, ließ sich erst am Meer December,


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[0342] seinem Vater Paul zum Katholicismus hinneigte; nachher ging er vom Mysticismus zu einem religiösen und politischen Liberalismus über; und in den letzten Jahren seines Lebens endlich hatte sich eine unerklärliche, melancholische Sehnsucht seiner Seele bemächtigt. Eben so mannigfach wechselnd war seine Politik. Erst den dringenden Bitten Englands nachgebend, führt er unermüdlichen Krieg mit Frankreich; obgleich bei Austerlitz geschlagen, rückt er bei Eylau und Friedland nochmals in's Feld und wird ein zweites und drittes Mal besiegt. Darauf voll Bewunderung für Napoleon drückt er in Tilsit mit Herzlichkeit die mächtige Hand des Eroberers. Später dann ward Alexander wiederum ein Vasall Englands und ein unversöhnlicher Feind des französischen Kaisers; er ward die Seele des Wiener Congresses. Innerhalb seines eigenen Reiches, das gute, wie böse Eindrücke lediglich von seiner Hand erhielt, zeigte sich der Nachtheil dieses schwankenden Charakters des Kaisers Alerander noch deutli¬ cher. Rußland befand sich nach den Erschütterungen von 1815 in einem gefährlicheren Zustande, als mancher andere Staat Europas. In den höhern Ständen war das Familiengefühl, das einzige, das diese Kreise der Gesellschaft an den Kaiser bindet, gelockert und ge¬ schwächt: daher entstanden in allen Ecken des weiten Reiches Ver¬ schwörungen; aber alle hatten sie nur einen negativen Zweck, näm¬ lich die Zerstörung der Dynastie, und da Nußland im Kaiser perso- nificirt ist, also auch des Staates selbst; ein abscheuliches Gefühl der nacktesten Selbstsucht und der gräßlichsten Anarchie belebte all diese vornehmen Verschworenen. Man tanzte damals in Nußland nicht minder auf einem Vulcan, als 1830 in Fankreich. Zu diesen Gefahren von innen gesellten sich nun noch andere von außen. Eng¬ land, eifersüchtig auf Rußlands Macht, erregte ihm überall Feinde, in Asten war es Persien, in Europa und in Asien die Türkei. Diese schwierige Lage ward noch verwickelter durch die Unsicherheit der Thronfolge. Constantin's Entsagung war nicht öffentlich bekannt gemacht worden; nach dem Tode Alerander's konnten sich daher die Verschwörer, um die Armee auf ihre Seite zu bringen, als die Vertheidiger des rechtmäßigen Czaren ausgeben, dessen Rechte ver¬ letzt seien; Nikolaus selbst, der sofort, als die Nachricht von Aleran¬ der's Tode ans Taganrog nach Petersburg gekommen war, die Zü¬ gel des Reichs ergrissen hatte, ließ sich erst am Meer December,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/342>, abgerufen am 23.07.2024.