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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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legenheiten eines Fremden kennen zu lernen, den Nachweis zu fuhren,
daß er einen festen Wohnsitz und hinreichende Eristenzmittel habe.
DaS ist an und für sich ganz gut und die höheren und mittleren
Klassen sehen hierin gar keine strenge Maßregel. Betrachtet nun
aber ihre Wirksamkeit auf das Volk, und Ihr werdet sehen, wie
schwer sie auf ihm lastet. Ein armer Familienvater, dessen müh¬
sames Gewerbe plötzlich durch eine herrliche, neuerfundene Maschine
getödtet worden ist, hat keine Mittel' mehr, seine Miethe zu bezahlen,
und wird vom Hauseigenthümer nebst Weib und Kind auf die Straße
geworfen: er wird in den Augen des Gesetzes ein Vagabunde! Ein
armer Landmann, den ein Blitzstrahl, ein Mißwachs, ein Hagel¬
wetter ruinirt hat und dem es für den Augenblick an Arbeit fehlt,
was ist er? Ein Vagabunde! Als solchen schleppt man ihn vor das
Polizeigericht und verurtheilt ihn: was geschieht damit? Er wird,
unverschuldeten Unglücks halber zum Verbrecher gestempelt und mit
unauslöschlichem Mal gebrandmarkt sür sein ganzes Leben. Man
kann natürlich die Unterdrückung des herumstreichenden Lebens nicht
tadeln wollen, weil dessen Billigung der Gesellschaft nachtheilig
sein würde. Aber das kann man tadeln, daß die Gesetze ein
Vergehen daraus gemacht haben. Warum soll der Unglück¬
liche, der aus Armuth, aus Mangel an Erwerbsmitteln keinen
bleibenden Aufenthalt hat, > der strafenden Gerechtigkeit verfallen
sein und mit Spitzbuben und nächtlichen Ruhestörern in eine
Kategorie gestellt werden? Hier haben nach meiner Ansicht die
Gesetzgeber selbst ein Vergehen gegen die Menschenwürde der
niedrigen Volksklassen begangen. Warum soll der als Schuldi¬
ger erscheinen, dessen Unglück darin besteht, daß er arm ist
und keine Stätte hat, da er sein Haupt hinlegen soll? Weil er
nichts hat, so setzt Ihr voraus, daß er stehlen will? Nun zugegeben,
die Vermuthung ist wenigstens nach der Logik der Reichen nicht
unwahrscheinlich. Aber begeht Ihr nicht einen doppelten Fehler,
indem ihr den Armen, dem dieser verbrecherische Gedanke vielleicht
ganz fern lag, dadurch, daß Ihr so unverhohlen diesen Verdacht kund
' gebt, unverdient in seiner eigenen Achtung herabsetzt und so viel¬
leicht selbst erst den Keim des Verbrechens in seine Seele streut?
Ach! wenn Ihr nur hören und beachten wolltet, wie ver¬
nünftige und gar traurige Dinge sie zuweilen vor den Tribunalen


legenheiten eines Fremden kennen zu lernen, den Nachweis zu fuhren,
daß er einen festen Wohnsitz und hinreichende Eristenzmittel habe.
DaS ist an und für sich ganz gut und die höheren und mittleren
Klassen sehen hierin gar keine strenge Maßregel. Betrachtet nun
aber ihre Wirksamkeit auf das Volk, und Ihr werdet sehen, wie
schwer sie auf ihm lastet. Ein armer Familienvater, dessen müh¬
sames Gewerbe plötzlich durch eine herrliche, neuerfundene Maschine
getödtet worden ist, hat keine Mittel' mehr, seine Miethe zu bezahlen,
und wird vom Hauseigenthümer nebst Weib und Kind auf die Straße
geworfen: er wird in den Augen des Gesetzes ein Vagabunde! Ein
armer Landmann, den ein Blitzstrahl, ein Mißwachs, ein Hagel¬
wetter ruinirt hat und dem es für den Augenblick an Arbeit fehlt,
was ist er? Ein Vagabunde! Als solchen schleppt man ihn vor das
Polizeigericht und verurtheilt ihn: was geschieht damit? Er wird,
unverschuldeten Unglücks halber zum Verbrecher gestempelt und mit
unauslöschlichem Mal gebrandmarkt sür sein ganzes Leben. Man
kann natürlich die Unterdrückung des herumstreichenden Lebens nicht
tadeln wollen, weil dessen Billigung der Gesellschaft nachtheilig
sein würde. Aber das kann man tadeln, daß die Gesetze ein
Vergehen daraus gemacht haben. Warum soll der Unglück¬
liche, der aus Armuth, aus Mangel an Erwerbsmitteln keinen
bleibenden Aufenthalt hat, > der strafenden Gerechtigkeit verfallen
sein und mit Spitzbuben und nächtlichen Ruhestörern in eine
Kategorie gestellt werden? Hier haben nach meiner Ansicht die
Gesetzgeber selbst ein Vergehen gegen die Menschenwürde der
niedrigen Volksklassen begangen. Warum soll der als Schuldi¬
ger erscheinen, dessen Unglück darin besteht, daß er arm ist
und keine Stätte hat, da er sein Haupt hinlegen soll? Weil er
nichts hat, so setzt Ihr voraus, daß er stehlen will? Nun zugegeben,
die Vermuthung ist wenigstens nach der Logik der Reichen nicht
unwahrscheinlich. Aber begeht Ihr nicht einen doppelten Fehler,
indem ihr den Armen, dem dieser verbrecherische Gedanke vielleicht
ganz fern lag, dadurch, daß Ihr so unverhohlen diesen Verdacht kund
' gebt, unverdient in seiner eigenen Achtung herabsetzt und so viel¬
leicht selbst erst den Keim des Verbrechens in seine Seele streut?
Ach! wenn Ihr nur hören und beachten wolltet, wie ver¬
nünftige und gar traurige Dinge sie zuweilen vor den Tribunalen


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[0270] legenheiten eines Fremden kennen zu lernen, den Nachweis zu fuhren, daß er einen festen Wohnsitz und hinreichende Eristenzmittel habe. DaS ist an und für sich ganz gut und die höheren und mittleren Klassen sehen hierin gar keine strenge Maßregel. Betrachtet nun aber ihre Wirksamkeit auf das Volk, und Ihr werdet sehen, wie schwer sie auf ihm lastet. Ein armer Familienvater, dessen müh¬ sames Gewerbe plötzlich durch eine herrliche, neuerfundene Maschine getödtet worden ist, hat keine Mittel' mehr, seine Miethe zu bezahlen, und wird vom Hauseigenthümer nebst Weib und Kind auf die Straße geworfen: er wird in den Augen des Gesetzes ein Vagabunde! Ein armer Landmann, den ein Blitzstrahl, ein Mißwachs, ein Hagel¬ wetter ruinirt hat und dem es für den Augenblick an Arbeit fehlt, was ist er? Ein Vagabunde! Als solchen schleppt man ihn vor das Polizeigericht und verurtheilt ihn: was geschieht damit? Er wird, unverschuldeten Unglücks halber zum Verbrecher gestempelt und mit unauslöschlichem Mal gebrandmarkt sür sein ganzes Leben. Man kann natürlich die Unterdrückung des herumstreichenden Lebens nicht tadeln wollen, weil dessen Billigung der Gesellschaft nachtheilig sein würde. Aber das kann man tadeln, daß die Gesetze ein Vergehen daraus gemacht haben. Warum soll der Unglück¬ liche, der aus Armuth, aus Mangel an Erwerbsmitteln keinen bleibenden Aufenthalt hat, > der strafenden Gerechtigkeit verfallen sein und mit Spitzbuben und nächtlichen Ruhestörern in eine Kategorie gestellt werden? Hier haben nach meiner Ansicht die Gesetzgeber selbst ein Vergehen gegen die Menschenwürde der niedrigen Volksklassen begangen. Warum soll der als Schuldi¬ ger erscheinen, dessen Unglück darin besteht, daß er arm ist und keine Stätte hat, da er sein Haupt hinlegen soll? Weil er nichts hat, so setzt Ihr voraus, daß er stehlen will? Nun zugegeben, die Vermuthung ist wenigstens nach der Logik der Reichen nicht unwahrscheinlich. Aber begeht Ihr nicht einen doppelten Fehler, indem ihr den Armen, dem dieser verbrecherische Gedanke vielleicht ganz fern lag, dadurch, daß Ihr so unverhohlen diesen Verdacht kund ' gebt, unverdient in seiner eigenen Achtung herabsetzt und so viel¬ leicht selbst erst den Keim des Verbrechens in seine Seele streut? Ach! wenn Ihr nur hören und beachten wolltet, wie ver¬ nünftige und gar traurige Dinge sie zuweilen vor den Tribunalen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/270>, abgerufen am 03.07.2024.