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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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bedarf? Eine Art-moralischer Wiederherstellung, die es in seinem
eigenen Geiste erhöht, wodurch ihm ein tiefer Abscheu gegen die
Liverei des Elends eingeflößt wird, die es jetzt in abgestumpften
Gefühle gleichgültig an allen Orten mit sich herumschleppt, wodurch
ihm eine heilsame Energie eingeflößt wird, daß es nicht an sich selbst
verzweifle, nicht den Muth, aufwärts zu streben, verliere. Es ist
Platz für Alle unter der Sonne. Aber wie viele werfen sich Abends
verzweiflungsvoll auf ihr elendes Strohlager, die den Tod als eine
Wohlthat erflehen und, weil er nicht kommen will, ihr Leben in
herabwürdigender Trunkenheit zu vergessen, ihre Leiden dadurch zu
übertäuben suchen. Will man dem Volke wahrhaft wohlthun, so
versuche man es unter dem niederbeugenden Joche seines erblichen
Elends wieder aufzurichten und den Einzelnen das Bewußtsein ihrer
Würde, als Menschen, als Bürger wiederzugeben: und dazu bedarf
man weder langer theoretischer Auseinandersetzungen der Menschen,
rechte, noch weitschweifiger Constitutionen. Wahrlich, man muß es
wohl eingestehen, wir behandeln fast alle gemeinhin das Volk ent¬
weder mit beleidigenden Mitleid oder wir erdrücken es, indem wir
ihm unsre Überlegenheit in geistiger und andrer Beziehung allzu
fühlbar machen. Nun ja, das Volk ist unter einer gewissen Vor¬
mundschaft; aber soll es ewig geistesschwach, soll es ewig bevor¬
mundet bleiben? Und um es aus diesem Zustande zu bringen,
bedarf es der Thaten: Worte reichen nicht hin. Ausgehen aber
müßte diese Veränderung von den Gesetzen: sie müßten den ersten
Schritt vorwärts in diesem Sinne thun. Denn bei dem besten
Willen muß man doch gestehen, es herrscht in ihnen, weil sie meist
von den Reichen und "Glückverhärteten" gemacht sind, fast stets ein
unbegreifliches Gefühl der Feindseligkeit gegen den Armen und Be¬
dürftigen, gleich als wäre er der gemeinsame Feind der Gesellschaft.

Im Mittelalter gab es ewig wandernde Banden von Zigeunern,
von Bettlern, von Gauklern, die weder Dach noch Fach, weder Hütte
noch Herd hatten: aber in den großen Städten fanden sie auf
Kirchhöfen und andern Orten Zufluchtsstätten, wohin des Königs
Gerichtsbarkeit nicht drang. Das ist nun in unsern Zeiten, wo die Frei¬
heit herrscht, anders geworden. Man hat das Vagabundenleben für
ein Vergehen gegen die Gesellschaft erklärt und Jedermann ist ver¬
pflichtet, vor dem ersten, besten Gendarmen, der Lust hat, die Ange-


bedarf? Eine Art-moralischer Wiederherstellung, die es in seinem
eigenen Geiste erhöht, wodurch ihm ein tiefer Abscheu gegen die
Liverei des Elends eingeflößt wird, die es jetzt in abgestumpften
Gefühle gleichgültig an allen Orten mit sich herumschleppt, wodurch
ihm eine heilsame Energie eingeflößt wird, daß es nicht an sich selbst
verzweifle, nicht den Muth, aufwärts zu streben, verliere. Es ist
Platz für Alle unter der Sonne. Aber wie viele werfen sich Abends
verzweiflungsvoll auf ihr elendes Strohlager, die den Tod als eine
Wohlthat erflehen und, weil er nicht kommen will, ihr Leben in
herabwürdigender Trunkenheit zu vergessen, ihre Leiden dadurch zu
übertäuben suchen. Will man dem Volke wahrhaft wohlthun, so
versuche man es unter dem niederbeugenden Joche seines erblichen
Elends wieder aufzurichten und den Einzelnen das Bewußtsein ihrer
Würde, als Menschen, als Bürger wiederzugeben: und dazu bedarf
man weder langer theoretischer Auseinandersetzungen der Menschen,
rechte, noch weitschweifiger Constitutionen. Wahrlich, man muß es
wohl eingestehen, wir behandeln fast alle gemeinhin das Volk ent¬
weder mit beleidigenden Mitleid oder wir erdrücken es, indem wir
ihm unsre Überlegenheit in geistiger und andrer Beziehung allzu
fühlbar machen. Nun ja, das Volk ist unter einer gewissen Vor¬
mundschaft; aber soll es ewig geistesschwach, soll es ewig bevor¬
mundet bleiben? Und um es aus diesem Zustande zu bringen,
bedarf es der Thaten: Worte reichen nicht hin. Ausgehen aber
müßte diese Veränderung von den Gesetzen: sie müßten den ersten
Schritt vorwärts in diesem Sinne thun. Denn bei dem besten
Willen muß man doch gestehen, es herrscht in ihnen, weil sie meist
von den Reichen und „Glückverhärteten" gemacht sind, fast stets ein
unbegreifliches Gefühl der Feindseligkeit gegen den Armen und Be¬
dürftigen, gleich als wäre er der gemeinsame Feind der Gesellschaft.

Im Mittelalter gab es ewig wandernde Banden von Zigeunern,
von Bettlern, von Gauklern, die weder Dach noch Fach, weder Hütte
noch Herd hatten: aber in den großen Städten fanden sie auf
Kirchhöfen und andern Orten Zufluchtsstätten, wohin des Königs
Gerichtsbarkeit nicht drang. Das ist nun in unsern Zeiten, wo die Frei¬
heit herrscht, anders geworden. Man hat das Vagabundenleben für
ein Vergehen gegen die Gesellschaft erklärt und Jedermann ist ver¬
pflichtet, vor dem ersten, besten Gendarmen, der Lust hat, die Ange-


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[0269] bedarf? Eine Art-moralischer Wiederherstellung, die es in seinem eigenen Geiste erhöht, wodurch ihm ein tiefer Abscheu gegen die Liverei des Elends eingeflößt wird, die es jetzt in abgestumpften Gefühle gleichgültig an allen Orten mit sich herumschleppt, wodurch ihm eine heilsame Energie eingeflößt wird, daß es nicht an sich selbst verzweifle, nicht den Muth, aufwärts zu streben, verliere. Es ist Platz für Alle unter der Sonne. Aber wie viele werfen sich Abends verzweiflungsvoll auf ihr elendes Strohlager, die den Tod als eine Wohlthat erflehen und, weil er nicht kommen will, ihr Leben in herabwürdigender Trunkenheit zu vergessen, ihre Leiden dadurch zu übertäuben suchen. Will man dem Volke wahrhaft wohlthun, so versuche man es unter dem niederbeugenden Joche seines erblichen Elends wieder aufzurichten und den Einzelnen das Bewußtsein ihrer Würde, als Menschen, als Bürger wiederzugeben: und dazu bedarf man weder langer theoretischer Auseinandersetzungen der Menschen, rechte, noch weitschweifiger Constitutionen. Wahrlich, man muß es wohl eingestehen, wir behandeln fast alle gemeinhin das Volk ent¬ weder mit beleidigenden Mitleid oder wir erdrücken es, indem wir ihm unsre Überlegenheit in geistiger und andrer Beziehung allzu fühlbar machen. Nun ja, das Volk ist unter einer gewissen Vor¬ mundschaft; aber soll es ewig geistesschwach, soll es ewig bevor¬ mundet bleiben? Und um es aus diesem Zustande zu bringen, bedarf es der Thaten: Worte reichen nicht hin. Ausgehen aber müßte diese Veränderung von den Gesetzen: sie müßten den ersten Schritt vorwärts in diesem Sinne thun. Denn bei dem besten Willen muß man doch gestehen, es herrscht in ihnen, weil sie meist von den Reichen und „Glückverhärteten" gemacht sind, fast stets ein unbegreifliches Gefühl der Feindseligkeit gegen den Armen und Be¬ dürftigen, gleich als wäre er der gemeinsame Feind der Gesellschaft. Im Mittelalter gab es ewig wandernde Banden von Zigeunern, von Bettlern, von Gauklern, die weder Dach noch Fach, weder Hütte noch Herd hatten: aber in den großen Städten fanden sie auf Kirchhöfen und andern Orten Zufluchtsstätten, wohin des Königs Gerichtsbarkeit nicht drang. Das ist nun in unsern Zeiten, wo die Frei¬ heit herrscht, anders geworden. Man hat das Vagabundenleben für ein Vergehen gegen die Gesellschaft erklärt und Jedermann ist ver¬ pflichtet, vor dem ersten, besten Gendarmen, der Lust hat, die Ange-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/269>, abgerufen am 23.07.2024.