Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

stolzen und andere Thränen -- und Rührstücke desselben Verfas¬
sers? Und vor Allem das Großartigste dieser Gattung: Kotzebue's
"unsterbliches Meisterwerk" Menschenhaß und Reue, worin,
wie Börne irgendwo erzählt, sogar der große Künstler Talma mit
preußischem Grenadierzopfe den Meinau spielte und den Pariserin¬
nen unzählbare Thränen entlockte. Freilich diese letzteren weinen
jetzt, da die schauervolle Melodramenlitcratur in Frankreich ihren
Thron aufgeschlagen, nicht mehr um so Weniges, sondern erst, wenn
ein Dutzend Mord- und Schandthaten vorgefallen sind und sie einen
Bösewicht bis ins Bagno begleitet haben, bekommen sie bei dem
dreizehnten einen Nervenanfall und weinen vor krampfhaftem Ent¬
setzen. Aber wir Deutschen sind selbst jetzt noch, obgleich uns die
rauhe, drangvolle Wirklichkeit genug der bittern, thränenschwerem
Leiden gebracht, noch nicht wasserdichter geworden, sondern sind in
Literatur und Theater noch jeder Rührung zugänglich. Denn hatte
nicht die Restaurationsepoche ihre Houwald'schen und Müllner--
schen und Raupach'schen Rührstücke? Und Clauren, der mit verfüh¬
rerischer Sentimentalität eine wahrhaft sittengefährliche Tendenz
verband, ist er nicht in schön vergoldeten Taschenbüchern in die
Hände unserer Jungfrauen gekommen? Und Henriette Hänke und
Amalie Schoppe und Johanna Schoppcnhauer und wie das ganze
larmoyante Heer von deutschen Romanschriftstellerinnen aus den
zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts heißt, wie viel Thränen
haben schöne Mädchen- und Frauenaugen über diese Bücher ver¬
gossen ! Und ist es denn selbst in der neuesten Zeit besser ge¬
worden? Darf man an die zahllosen Thränen vergessen, die bei
Halm'S "Griseldis" oder bei den Stücken der Prinzessin von Sachsen
geflossen sind?

Wem von meinen jüngeren Lesern wird eS nicht schon so
gegangen sein, wie letzthin mir? Ich war fröhlich und scherzhaft
gestimmt, wie selten; tausend lustige Ideen galoppirten mir durch's
Gehirn, auf meinen Lippen und über meiner Seele schwebte ein
heiteres, freudiges Lächeln: meine Phantasie erging sich in nichts
als in lachenden Bildern. Gut, dachte ich, in dieser Festtagslaune
mußt Du Dich dem Damenkreise zeigen, der Dich gewöhnlich mürrisch
schilt, und so begab ich mich, indem mein Frohsinn durch die Hoff¬
nung auf die Eroberungen, die mir meine heutige Liebenswürdigkeit zu


stolzen und andere Thränen — und Rührstücke desselben Verfas¬
sers? Und vor Allem das Großartigste dieser Gattung: Kotzebue's
„unsterbliches Meisterwerk" Menschenhaß und Reue, worin,
wie Börne irgendwo erzählt, sogar der große Künstler Talma mit
preußischem Grenadierzopfe den Meinau spielte und den Pariserin¬
nen unzählbare Thränen entlockte. Freilich diese letzteren weinen
jetzt, da die schauervolle Melodramenlitcratur in Frankreich ihren
Thron aufgeschlagen, nicht mehr um so Weniges, sondern erst, wenn
ein Dutzend Mord- und Schandthaten vorgefallen sind und sie einen
Bösewicht bis ins Bagno begleitet haben, bekommen sie bei dem
dreizehnten einen Nervenanfall und weinen vor krampfhaftem Ent¬
setzen. Aber wir Deutschen sind selbst jetzt noch, obgleich uns die
rauhe, drangvolle Wirklichkeit genug der bittern, thränenschwerem
Leiden gebracht, noch nicht wasserdichter geworden, sondern sind in
Literatur und Theater noch jeder Rührung zugänglich. Denn hatte
nicht die Restaurationsepoche ihre Houwald'schen und Müllner--
schen und Raupach'schen Rührstücke? Und Clauren, der mit verfüh¬
rerischer Sentimentalität eine wahrhaft sittengefährliche Tendenz
verband, ist er nicht in schön vergoldeten Taschenbüchern in die
Hände unserer Jungfrauen gekommen? Und Henriette Hänke und
Amalie Schoppe und Johanna Schoppcnhauer und wie das ganze
larmoyante Heer von deutschen Romanschriftstellerinnen aus den
zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts heißt, wie viel Thränen
haben schöne Mädchen- und Frauenaugen über diese Bücher ver¬
gossen ! Und ist es denn selbst in der neuesten Zeit besser ge¬
worden? Darf man an die zahllosen Thränen vergessen, die bei
Halm'S „Griseldis" oder bei den Stücken der Prinzessin von Sachsen
geflossen sind?

Wem von meinen jüngeren Lesern wird eS nicht schon so
gegangen sein, wie letzthin mir? Ich war fröhlich und scherzhaft
gestimmt, wie selten; tausend lustige Ideen galoppirten mir durch's
Gehirn, auf meinen Lippen und über meiner Seele schwebte ein
heiteres, freudiges Lächeln: meine Phantasie erging sich in nichts
als in lachenden Bildern. Gut, dachte ich, in dieser Festtagslaune
mußt Du Dich dem Damenkreise zeigen, der Dich gewöhnlich mürrisch
schilt, und so begab ich mich, indem mein Frohsinn durch die Hoff¬
nung auf die Eroberungen, die mir meine heutige Liebenswürdigkeit zu


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0260" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/266877"/>
            <p xml:id="ID_670" prev="#ID_669"> stolzen und andere Thränen &#x2014; und Rührstücke desselben Verfas¬<lb/>
sers? Und vor Allem das Großartigste dieser Gattung: Kotzebue's<lb/>
&#x201E;unsterbliches Meisterwerk" Menschenhaß und Reue, worin,<lb/>
wie Börne irgendwo erzählt, sogar der große Künstler Talma mit<lb/>
preußischem Grenadierzopfe den Meinau spielte und den Pariserin¬<lb/>
nen unzählbare Thränen entlockte.  Freilich diese letzteren weinen<lb/>
jetzt, da die schauervolle Melodramenlitcratur in Frankreich ihren<lb/>
Thron aufgeschlagen, nicht mehr um so Weniges, sondern erst, wenn<lb/>
ein Dutzend Mord- und Schandthaten vorgefallen sind und sie einen<lb/>
Bösewicht bis ins Bagno begleitet haben, bekommen sie bei dem<lb/>
dreizehnten einen Nervenanfall und weinen vor krampfhaftem Ent¬<lb/>
setzen. Aber wir Deutschen sind selbst jetzt noch, obgleich uns die<lb/>
rauhe, drangvolle Wirklichkeit genug der bittern, thränenschwerem<lb/>
Leiden gebracht, noch nicht wasserdichter geworden, sondern sind in<lb/>
Literatur und Theater noch jeder Rührung zugänglich. Denn hatte<lb/>
nicht die Restaurationsepoche ihre Houwald'schen und Müllner--<lb/>
schen und Raupach'schen Rührstücke? Und Clauren, der mit verfüh¬<lb/>
rerischer Sentimentalität eine wahrhaft sittengefährliche Tendenz<lb/>
verband, ist er nicht in schön vergoldeten Taschenbüchern in die<lb/>
Hände unserer Jungfrauen gekommen? Und Henriette Hänke und<lb/>
Amalie Schoppe und Johanna Schoppcnhauer und wie das ganze<lb/>
larmoyante Heer von deutschen Romanschriftstellerinnen aus den<lb/>
zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts heißt, wie viel Thränen<lb/>
haben schöne Mädchen- und Frauenaugen über diese Bücher ver¬<lb/>
gossen !  Und ist es denn selbst in der neuesten Zeit besser ge¬<lb/>
worden? Darf man an die zahllosen Thränen vergessen, die bei<lb/>
Halm'S &#x201E;Griseldis" oder bei den Stücken der Prinzessin von Sachsen<lb/>
geflossen sind?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_671" next="#ID_672"> Wem von meinen jüngeren Lesern wird eS nicht schon so<lb/>
gegangen sein, wie letzthin mir? Ich war fröhlich und scherzhaft<lb/>
gestimmt, wie selten; tausend lustige Ideen galoppirten mir durch's<lb/>
Gehirn, auf meinen Lippen und über meiner Seele schwebte ein<lb/>
heiteres, freudiges Lächeln: meine Phantasie erging sich in nichts<lb/>
als in lachenden Bildern. Gut, dachte ich, in dieser Festtagslaune<lb/>
mußt Du Dich dem Damenkreise zeigen, der Dich gewöhnlich mürrisch<lb/>
schilt, und so begab ich mich, indem mein Frohsinn durch die Hoff¬<lb/>
nung auf die Eroberungen, die mir meine heutige Liebenswürdigkeit zu</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0260] stolzen und andere Thränen — und Rührstücke desselben Verfas¬ sers? Und vor Allem das Großartigste dieser Gattung: Kotzebue's „unsterbliches Meisterwerk" Menschenhaß und Reue, worin, wie Börne irgendwo erzählt, sogar der große Künstler Talma mit preußischem Grenadierzopfe den Meinau spielte und den Pariserin¬ nen unzählbare Thränen entlockte. Freilich diese letzteren weinen jetzt, da die schauervolle Melodramenlitcratur in Frankreich ihren Thron aufgeschlagen, nicht mehr um so Weniges, sondern erst, wenn ein Dutzend Mord- und Schandthaten vorgefallen sind und sie einen Bösewicht bis ins Bagno begleitet haben, bekommen sie bei dem dreizehnten einen Nervenanfall und weinen vor krampfhaftem Ent¬ setzen. Aber wir Deutschen sind selbst jetzt noch, obgleich uns die rauhe, drangvolle Wirklichkeit genug der bittern, thränenschwerem Leiden gebracht, noch nicht wasserdichter geworden, sondern sind in Literatur und Theater noch jeder Rührung zugänglich. Denn hatte nicht die Restaurationsepoche ihre Houwald'schen und Müllner-- schen und Raupach'schen Rührstücke? Und Clauren, der mit verfüh¬ rerischer Sentimentalität eine wahrhaft sittengefährliche Tendenz verband, ist er nicht in schön vergoldeten Taschenbüchern in die Hände unserer Jungfrauen gekommen? Und Henriette Hänke und Amalie Schoppe und Johanna Schoppcnhauer und wie das ganze larmoyante Heer von deutschen Romanschriftstellerinnen aus den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts heißt, wie viel Thränen haben schöne Mädchen- und Frauenaugen über diese Bücher ver¬ gossen ! Und ist es denn selbst in der neuesten Zeit besser ge¬ worden? Darf man an die zahllosen Thränen vergessen, die bei Halm'S „Griseldis" oder bei den Stücken der Prinzessin von Sachsen geflossen sind? Wem von meinen jüngeren Lesern wird eS nicht schon so gegangen sein, wie letzthin mir? Ich war fröhlich und scherzhaft gestimmt, wie selten; tausend lustige Ideen galoppirten mir durch's Gehirn, auf meinen Lippen und über meiner Seele schwebte ein heiteres, freudiges Lächeln: meine Phantasie erging sich in nichts als in lachenden Bildern. Gut, dachte ich, in dieser Festtagslaune mußt Du Dich dem Damenkreise zeigen, der Dich gewöhnlich mürrisch schilt, und so begab ich mich, indem mein Frohsinn durch die Hoff¬ nung auf die Eroberungen, die mir meine heutige Liebenswürdigkeit zu

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/260
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/260>, abgerufen am 26.08.2024.