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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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auf einige Tage zu verlassen und kaum vermögen sie vor Schmerz
alls den Armen ihrer schluchzenden Familie sich zu reißen und ihr
Auge ist so thränenumdunkelt, daß sie beim Einsteigen iiz den Wa¬
gen dem Postknecht, der ihr Paquet Hieher gebracht, sein-Trinkgeld
zu geben vergessen. -- . -- . Die Empfindsamkeit ist zwar, wie
alles Uebrige, der Mode unterworfen; jedoch haben Romane und
Theaterstücke zu allen Zeiten das Vorrecht behauptet, reichliche Thrä¬
nen zu entlocken. ES gab eine Zeit, da in der deutschen Literatur ein
Streben herrschte, ungeschminktes Naturleben darzustellen; der Mensch
sollte wieder zu Wurzeln und klarem Wasser zurückkehren: damals
erweichte das Gemälde einer tugendhaften Familie, die sich den lei¬
der! etwas übelriechenden Beschäftigungen des Hühnerhofes ergab,
die stoische Seele des Philosophen; das Herz des Freundes der
Natur, der von seinem fünften Stockwerk herabgestiegen, um die
friedliche Stille des Landlebens zu beobachten, ward bei solchem
Schauspiel ganz unter Wasser gesetzt. Der Anblick eines schönen
Greises, mit weißem, bis zum Nabel herabwallenden Barte, ergriff
ihn tief: dickwangige Bübchen, mit butterglänzendem Munde, ver¬
setzten ihn in die süßeste Entzückung lind, ward die Gruppe durch ein
Paar Zwillinge am Busen ihrer Mutter vervollständigt, dann hatte
die durch dieses reizende Schauspiel hervorgebrachte Rührung eine
solche Höhe erreicht, daß er sich nicht mehr halten konnte, sondern
schluchzend und mit halb von Thränen erstickter Stimme ausrief:
"Kommt, laßt Euch an mein Herz drücken!" Und die ganze interes"
sante Familie, der Greis und die "rotznäsigen" Bübchen, die Mutter
und ihre Jünglinge zerschmolzen mit ihm zusammen in Thränen an
seiner bewegten Brust. Wer von unseren Lesern hat nicht Geßner's
Idyllen und die ersten Scenen in Göthe's Werther gelesen? Wer
kennt nicht aus den Erzählungen seiner Eltern oder aus der Litera-
turgeschichte, oder auch aus eigener Lectüre in unüberwachter Jugend¬
zeit, den thränenreichen Siegwart und den mildherzigen Lafontaine,
der nach drei Bänden Leiden, die einen Stein erweichen könnten,
von seiner eigenen Rührung und den Thränen seiner Frau bewegt, sich
gewöhnlich entschloß, seinen Romanen einen sogenannten glücklichen
Ausgang zu geben? Und die Theaterstücke jener Zeit hatten dieselbe
weinerliche Tendenz, in die ja zum Theil selbst Schiller's Ca bale
und Liebe verfiel. Wer erinnert sich nicht an Jffland's Hage-


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auf einige Tage zu verlassen und kaum vermögen sie vor Schmerz
alls den Armen ihrer schluchzenden Familie sich zu reißen und ihr
Auge ist so thränenumdunkelt, daß sie beim Einsteigen iiz den Wa¬
gen dem Postknecht, der ihr Paquet Hieher gebracht, sein-Trinkgeld
zu geben vergessen. — . — . Die Empfindsamkeit ist zwar, wie
alles Uebrige, der Mode unterworfen; jedoch haben Romane und
Theaterstücke zu allen Zeiten das Vorrecht behauptet, reichliche Thrä¬
nen zu entlocken. ES gab eine Zeit, da in der deutschen Literatur ein
Streben herrschte, ungeschminktes Naturleben darzustellen; der Mensch
sollte wieder zu Wurzeln und klarem Wasser zurückkehren: damals
erweichte das Gemälde einer tugendhaften Familie, die sich den lei¬
der! etwas übelriechenden Beschäftigungen des Hühnerhofes ergab,
die stoische Seele des Philosophen; das Herz des Freundes der
Natur, der von seinem fünften Stockwerk herabgestiegen, um die
friedliche Stille des Landlebens zu beobachten, ward bei solchem
Schauspiel ganz unter Wasser gesetzt. Der Anblick eines schönen
Greises, mit weißem, bis zum Nabel herabwallenden Barte, ergriff
ihn tief: dickwangige Bübchen, mit butterglänzendem Munde, ver¬
setzten ihn in die süßeste Entzückung lind, ward die Gruppe durch ein
Paar Zwillinge am Busen ihrer Mutter vervollständigt, dann hatte
die durch dieses reizende Schauspiel hervorgebrachte Rührung eine
solche Höhe erreicht, daß er sich nicht mehr halten konnte, sondern
schluchzend und mit halb von Thränen erstickter Stimme ausrief:
„Kommt, laßt Euch an mein Herz drücken!" Und die ganze interes»
sante Familie, der Greis und die „rotznäsigen" Bübchen, die Mutter
und ihre Jünglinge zerschmolzen mit ihm zusammen in Thränen an
seiner bewegten Brust. Wer von unseren Lesern hat nicht Geßner's
Idyllen und die ersten Scenen in Göthe's Werther gelesen? Wer
kennt nicht aus den Erzählungen seiner Eltern oder aus der Litera-
turgeschichte, oder auch aus eigener Lectüre in unüberwachter Jugend¬
zeit, den thränenreichen Siegwart und den mildherzigen Lafontaine,
der nach drei Bänden Leiden, die einen Stein erweichen könnten,
von seiner eigenen Rührung und den Thränen seiner Frau bewegt, sich
gewöhnlich entschloß, seinen Romanen einen sogenannten glücklichen
Ausgang zu geben? Und die Theaterstücke jener Zeit hatten dieselbe
weinerliche Tendenz, in die ja zum Theil selbst Schiller's Ca bale
und Liebe verfiel. Wer erinnert sich nicht an Jffland's Hage-


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[0259] auf einige Tage zu verlassen und kaum vermögen sie vor Schmerz alls den Armen ihrer schluchzenden Familie sich zu reißen und ihr Auge ist so thränenumdunkelt, daß sie beim Einsteigen iiz den Wa¬ gen dem Postknecht, der ihr Paquet Hieher gebracht, sein-Trinkgeld zu geben vergessen. — . — . Die Empfindsamkeit ist zwar, wie alles Uebrige, der Mode unterworfen; jedoch haben Romane und Theaterstücke zu allen Zeiten das Vorrecht behauptet, reichliche Thrä¬ nen zu entlocken. ES gab eine Zeit, da in der deutschen Literatur ein Streben herrschte, ungeschminktes Naturleben darzustellen; der Mensch sollte wieder zu Wurzeln und klarem Wasser zurückkehren: damals erweichte das Gemälde einer tugendhaften Familie, die sich den lei¬ der! etwas übelriechenden Beschäftigungen des Hühnerhofes ergab, die stoische Seele des Philosophen; das Herz des Freundes der Natur, der von seinem fünften Stockwerk herabgestiegen, um die friedliche Stille des Landlebens zu beobachten, ward bei solchem Schauspiel ganz unter Wasser gesetzt. Der Anblick eines schönen Greises, mit weißem, bis zum Nabel herabwallenden Barte, ergriff ihn tief: dickwangige Bübchen, mit butterglänzendem Munde, ver¬ setzten ihn in die süßeste Entzückung lind, ward die Gruppe durch ein Paar Zwillinge am Busen ihrer Mutter vervollständigt, dann hatte die durch dieses reizende Schauspiel hervorgebrachte Rührung eine solche Höhe erreicht, daß er sich nicht mehr halten konnte, sondern schluchzend und mit halb von Thränen erstickter Stimme ausrief: „Kommt, laßt Euch an mein Herz drücken!" Und die ganze interes» sante Familie, der Greis und die „rotznäsigen" Bübchen, die Mutter und ihre Jünglinge zerschmolzen mit ihm zusammen in Thränen an seiner bewegten Brust. Wer von unseren Lesern hat nicht Geßner's Idyllen und die ersten Scenen in Göthe's Werther gelesen? Wer kennt nicht aus den Erzählungen seiner Eltern oder aus der Litera- turgeschichte, oder auch aus eigener Lectüre in unüberwachter Jugend¬ zeit, den thränenreichen Siegwart und den mildherzigen Lafontaine, der nach drei Bänden Leiden, die einen Stein erweichen könnten, von seiner eigenen Rührung und den Thränen seiner Frau bewegt, sich gewöhnlich entschloß, seinen Romanen einen sogenannten glücklichen Ausgang zu geben? Und die Theaterstücke jener Zeit hatten dieselbe weinerliche Tendenz, in die ja zum Theil selbst Schiller's Ca bale und Liebe verfiel. Wer erinnert sich nicht an Jffland's Hage- !7-«-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/259>, abgerufen am 23.07.2024.