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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Wege bringen sollte, noch gesteigert wurde, in eine befreundete Fa¬
milie, wo eine Anzahl mir bekannter junger Damen fast täglich sich
zusammenfand. Man denke sich, wie mir zu Muthe ward, als ich
bei meinem Eintritt in'6 Gesellschaftszimmer die Augen aller Mit-
glieder des lieblichen Kreises thränenfeucht und alle Taschentücher
in Bewegung sah. Mein Gott! dachte ich und erschrack, was ist
denn hier vorgefallen? Der Hausherr ist doch nicht, seitdem ich ihn
vor einigen Stunden nach der Börse gehen sah, todtkrank gewor¬
den? Und von einem bedeutenden Bankerott in der Handelswelt,
der auch auf meinen Freund nachtheiligen Einfluß üben konnte,
habe ich doch auch nichts gehört? Kurz, ich war über den Schmerz,
der sich auf allen Gesichtern malte, ganz außer Fassung gerathen
und fing schon an, darüber nachzudenken, wie ich mich mit Ehren
zurückziehen konnte. Da fand ich in dem dritten Bandevon Godwie-
Castle, der auf einem Tischchen vor der Hausfrau aufgeschlagen lag,
die Lösung deS Räthsels ,- die Ursache des ganzen Jammers. Ich
fluchte in meiner Seele ganz entsetzlich über alle weinerlichen Romane
und noch mehr über die nervenschwachen Frauen, welche dergleichen
Sachen nicht lesen können, ohne Thränenstrvme zu vergießen. Den"
hätte ich ihnen gesagt, daß ich auf dem Wege zu ihnen vielleicht
mehr denn einen vor Hunger sterbenden Armen getroffen habe, es
würden viele schöne Worte über Armenhäuser, aber gewiß uicht eine
Thräne geflossen sein. Ja, es ist eine schöne Sache um die Em-
pfindsamkeit, besonders wenn sie nichts kostet und zu keiner Ausgabe
verpflichtet.

Es ist eine Schwäche der menschlichen Natur, daß sie an Thränen
ihr Wohlgefallen findet.

---- Die ewige

Beglaubigung der Menschheit sind ja Thränen.
Aber Leute von Geist verstehen die Kunst, ihre Empfindsamkeit
sowohl mit ihrer Gesundheit als vorzüglich mit ihrer Bequemlichkeit
in gutem Einverständniß zu halten. Sie haben gern alle Annehm¬
lichkeiten des Mitleids: die langweilige Seite desselben wissen si>'
sich fern zu halten. Daher hat die in allen Ländern sich gleich blei¬
bende vornehme Welt -- und ich nehme die weibliche Hälfte dersel¬
ben gar nicht aus -- stets bei Crin inalprozessen, wo sie öffentlich
sind, und bei Schaffoten sich Aufregungen gesucht. Es ist etwas so


Wege bringen sollte, noch gesteigert wurde, in eine befreundete Fa¬
milie, wo eine Anzahl mir bekannter junger Damen fast täglich sich
zusammenfand. Man denke sich, wie mir zu Muthe ward, als ich
bei meinem Eintritt in'6 Gesellschaftszimmer die Augen aller Mit-
glieder des lieblichen Kreises thränenfeucht und alle Taschentücher
in Bewegung sah. Mein Gott! dachte ich und erschrack, was ist
denn hier vorgefallen? Der Hausherr ist doch nicht, seitdem ich ihn
vor einigen Stunden nach der Börse gehen sah, todtkrank gewor¬
den? Und von einem bedeutenden Bankerott in der Handelswelt,
der auch auf meinen Freund nachtheiligen Einfluß üben konnte,
habe ich doch auch nichts gehört? Kurz, ich war über den Schmerz,
der sich auf allen Gesichtern malte, ganz außer Fassung gerathen
und fing schon an, darüber nachzudenken, wie ich mich mit Ehren
zurückziehen konnte. Da fand ich in dem dritten Bandevon Godwie-
Castle, der auf einem Tischchen vor der Hausfrau aufgeschlagen lag,
die Lösung deS Räthsels ,- die Ursache des ganzen Jammers. Ich
fluchte in meiner Seele ganz entsetzlich über alle weinerlichen Romane
und noch mehr über die nervenschwachen Frauen, welche dergleichen
Sachen nicht lesen können, ohne Thränenstrvme zu vergießen. Den»
hätte ich ihnen gesagt, daß ich auf dem Wege zu ihnen vielleicht
mehr denn einen vor Hunger sterbenden Armen getroffen habe, es
würden viele schöne Worte über Armenhäuser, aber gewiß uicht eine
Thräne geflossen sein. Ja, es ist eine schöne Sache um die Em-
pfindsamkeit, besonders wenn sie nichts kostet und zu keiner Ausgabe
verpflichtet.

Es ist eine Schwäche der menschlichen Natur, daß sie an Thränen
ihr Wohlgefallen findet.

---- Die ewige

Beglaubigung der Menschheit sind ja Thränen.
Aber Leute von Geist verstehen die Kunst, ihre Empfindsamkeit
sowohl mit ihrer Gesundheit als vorzüglich mit ihrer Bequemlichkeit
in gutem Einverständniß zu halten. Sie haben gern alle Annehm¬
lichkeiten des Mitleids: die langweilige Seite desselben wissen si>'
sich fern zu halten. Daher hat die in allen Ländern sich gleich blei¬
bende vornehme Welt — und ich nehme die weibliche Hälfte dersel¬
ben gar nicht aus — stets bei Crin inalprozessen, wo sie öffentlich
sind, und bei Schaffoten sich Aufregungen gesucht. Es ist etwas so


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[0261] Wege bringen sollte, noch gesteigert wurde, in eine befreundete Fa¬ milie, wo eine Anzahl mir bekannter junger Damen fast täglich sich zusammenfand. Man denke sich, wie mir zu Muthe ward, als ich bei meinem Eintritt in'6 Gesellschaftszimmer die Augen aller Mit- glieder des lieblichen Kreises thränenfeucht und alle Taschentücher in Bewegung sah. Mein Gott! dachte ich und erschrack, was ist denn hier vorgefallen? Der Hausherr ist doch nicht, seitdem ich ihn vor einigen Stunden nach der Börse gehen sah, todtkrank gewor¬ den? Und von einem bedeutenden Bankerott in der Handelswelt, der auch auf meinen Freund nachtheiligen Einfluß üben konnte, habe ich doch auch nichts gehört? Kurz, ich war über den Schmerz, der sich auf allen Gesichtern malte, ganz außer Fassung gerathen und fing schon an, darüber nachzudenken, wie ich mich mit Ehren zurückziehen konnte. Da fand ich in dem dritten Bandevon Godwie- Castle, der auf einem Tischchen vor der Hausfrau aufgeschlagen lag, die Lösung deS Räthsels ,- die Ursache des ganzen Jammers. Ich fluchte in meiner Seele ganz entsetzlich über alle weinerlichen Romane und noch mehr über die nervenschwachen Frauen, welche dergleichen Sachen nicht lesen können, ohne Thränenstrvme zu vergießen. Den» hätte ich ihnen gesagt, daß ich auf dem Wege zu ihnen vielleicht mehr denn einen vor Hunger sterbenden Armen getroffen habe, es würden viele schöne Worte über Armenhäuser, aber gewiß uicht eine Thräne geflossen sein. Ja, es ist eine schöne Sache um die Em- pfindsamkeit, besonders wenn sie nichts kostet und zu keiner Ausgabe verpflichtet. Es ist eine Schwäche der menschlichen Natur, daß sie an Thränen ihr Wohlgefallen findet. ---- Die ewige Beglaubigung der Menschheit sind ja Thränen. Aber Leute von Geist verstehen die Kunst, ihre Empfindsamkeit sowohl mit ihrer Gesundheit als vorzüglich mit ihrer Bequemlichkeit in gutem Einverständniß zu halten. Sie haben gern alle Annehm¬ lichkeiten des Mitleids: die langweilige Seite desselben wissen si>' sich fern zu halten. Daher hat die in allen Ländern sich gleich blei¬ bende vornehme Welt — und ich nehme die weibliche Hälfte dersel¬ ben gar nicht aus — stets bei Crin inalprozessen, wo sie öffentlich sind, und bei Schaffoten sich Aufregungen gesucht. Es ist etwas so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/261>, abgerufen am 26.08.2024.