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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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handelt, wo man durch das Schreiben das Lesen lernt; daher hat
man, obgleich dieß nicht ganz passend ist, dem Verfahren Massi-
mino'öden Namen des wechselseitigen Musikunterrichts ge¬
geben. Dieß ist aber falsch. Denn, obzwar es Aufseher in der
Schule giebt und diese Aufseher eine gewisse Anzahl Schüler dirigi-
ren, so lehren sie doch in der That nicht, da sie selbst von dem Lehrer
geleitet werden, welcher eine Lection für Alle dictirt. Der Unterricht
ist gleichzeitig, nicht wechselseitig. Diese Methode hat etwas Ver¬
lockendes, ja sogar etwas Nützliches. Jedermann weiß, wie oft es
vorkommt, daß es einem Zögling sehr schwer wird, den Namen einer
Note zu finden, wenn er den ihr entsprechenden Ton hört und
mit Schnelligkeit und Bestimmtheit ihren Werth und ihre Dauer
anzugeben, obgleich er geschriebene Noten ziemlich geläufig liest.
Diese Schwierigkeit entspringt aus einer Trägheit des Geistes, den
nichts zum Nachdenken geneigt macht, wenn er nicht dazu gezwungen
ist. Eine Uebung also, welche das Gedächtniß für die Töne und
das Maß ihrer Dauer entwickelt und stärkt, ist überaus nützlich.
Dieses darf aber nur eine Nebensache sein in dem allgemeinen Un¬
terricht, den der Schüler empfängt und diese Nebensache muß der
Kenntniß der Grundlehren und ihrer Anwendung in der Solmisation
nachfolgen, nicht aber vorausgehen. Wir werden Gelegenheit haben,
auf diesen Gegenstand zurückzukommen, wenn wir von der Methode
des Herrn Boquillon Wilden sprechen werden. Hier wollen wir
uns nur noch die Bemerkung erlauben, daß ein jedes System, wozu
ein großer Apparat von Mitteln erforderlich ist, in kleinen Schulen,
wie die von Flecken und Dörfern, nur sehr schwer in Anwendung
gebracht werden kann. Die größte Einfachheit ist das vorzüglichste
Verdienst in der Organisation solcher Schulen. Aber in Schulen,
die speciell für Musik bestimmt sind, also schon einen höheren Grad
einnehmen, wird man, wie wir glauben, diese Uebung, Musik zu
dictiren, stets von vielem Nutzen begleitet sehen. -- Massimino
hatte, wie wir schon sagten, anfangs das Glück, eine Modesache zu
sein, so daß mehrere selner Surfe sehr zahlreich besucht waren; spä¬
ter ist ihm diese wandelbare Göttin ungetreu worden. Er hat jedoch
seitdem in mehreren öffentlichen Schulanstalten, zuletzt im Königlichen
Erziehungs-Haus von Se. Denis, nahe bei Paris, seine Methode
mit Erfolg und Nutzen angewandt.


handelt, wo man durch das Schreiben das Lesen lernt; daher hat
man, obgleich dieß nicht ganz passend ist, dem Verfahren Massi-
mino'öden Namen des wechselseitigen Musikunterrichts ge¬
geben. Dieß ist aber falsch. Denn, obzwar es Aufseher in der
Schule giebt und diese Aufseher eine gewisse Anzahl Schüler dirigi-
ren, so lehren sie doch in der That nicht, da sie selbst von dem Lehrer
geleitet werden, welcher eine Lection für Alle dictirt. Der Unterricht
ist gleichzeitig, nicht wechselseitig. Diese Methode hat etwas Ver¬
lockendes, ja sogar etwas Nützliches. Jedermann weiß, wie oft es
vorkommt, daß es einem Zögling sehr schwer wird, den Namen einer
Note zu finden, wenn er den ihr entsprechenden Ton hört und
mit Schnelligkeit und Bestimmtheit ihren Werth und ihre Dauer
anzugeben, obgleich er geschriebene Noten ziemlich geläufig liest.
Diese Schwierigkeit entspringt aus einer Trägheit des Geistes, den
nichts zum Nachdenken geneigt macht, wenn er nicht dazu gezwungen
ist. Eine Uebung also, welche das Gedächtniß für die Töne und
das Maß ihrer Dauer entwickelt und stärkt, ist überaus nützlich.
Dieses darf aber nur eine Nebensache sein in dem allgemeinen Un¬
terricht, den der Schüler empfängt und diese Nebensache muß der
Kenntniß der Grundlehren und ihrer Anwendung in der Solmisation
nachfolgen, nicht aber vorausgehen. Wir werden Gelegenheit haben,
auf diesen Gegenstand zurückzukommen, wenn wir von der Methode
des Herrn Boquillon Wilden sprechen werden. Hier wollen wir
uns nur noch die Bemerkung erlauben, daß ein jedes System, wozu
ein großer Apparat von Mitteln erforderlich ist, in kleinen Schulen,
wie die von Flecken und Dörfern, nur sehr schwer in Anwendung
gebracht werden kann. Die größte Einfachheit ist das vorzüglichste
Verdienst in der Organisation solcher Schulen. Aber in Schulen,
die speciell für Musik bestimmt sind, also schon einen höheren Grad
einnehmen, wird man, wie wir glauben, diese Uebung, Musik zu
dictiren, stets von vielem Nutzen begleitet sehen. — Massimino
hatte, wie wir schon sagten, anfangs das Glück, eine Modesache zu
sein, so daß mehrere selner Surfe sehr zahlreich besucht waren; spä¬
ter ist ihm diese wandelbare Göttin ungetreu worden. Er hat jedoch
seitdem in mehreren öffentlichen Schulanstalten, zuletzt im Königlichen
Erziehungs-Haus von Se. Denis, nahe bei Paris, seine Methode
mit Erfolg und Nutzen angewandt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/233>, abgerufen am 23.07.2024.