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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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nicht als öffentliche, Jedermann zugängliche Schulanstalten betrachtet
werden: dem eigentlichen Volke blieben auch die einfachsten Begriffe
der Kunst fremd. Diese vollständige Unwissenheit nun war ein gro¬
ßer Nachtheil, nicht blos in Bezug auf die Kunst selbst, sondern auch
wegen des heilsamen Einflusses, den die Musik auf die Sitten aus¬
übt. Es ist dieser wohlthätige Einfluß der Musik auf die sittliche
Ausbildung der Völker zu oft und mit zu beredten Worten von großen
Philosophen und Staatsmännern der alten und neuen Zeiten aner¬
kannt und geschildert worden, als daß wir noch nöthig haben sollten,
hier weiter darauf einzugehen. Trotz dessen aber hat das gewöhn¬
liche Vorurtheil, wodurch dieser Kunst kein anderer Zweck als der
einer geistigen Zerstreuung gegeben wird, fortwährend seine Herr¬
schaft über die öffentliche Meinung behauptet und manche Regierun¬
gen selbst scheinen es getheilt zu haben, indem sie die Musik nicht
in den Kreis des Elementarunterrichts mit aufnahmen. Die Grün¬
dung einiger speziellen Musikschulen in Frankreich, Belgien, Spanien
und Italien widerlegt unsere Behauptung nicht; denn die natürliche Be¬
stimmung dieser Schulen ist, Künstler zu bilden, ihre Anzahl zu ver¬
mehren und sie in der Ausübung ihrer Kunst geschickter zu machen,
als sie durch Privaterziehung werden könnten. Ein ferneres Resul¬
tat des Daseins solcher Schulen ist, daß in gewissen Gesellschaften
der Geschmack an Musik ausgebreiteter wird; gäbe es aber deren auch
in jeder Stadt, so würden sie dennoch immer nur einen Auönahms-
unterricht bilden, weil es dem Willen jedes einzelnen Individuums
überlassen ist, daselbst Belehrung zu suchen oder nicht. Damit
der Elementarunterricht in der Musik wahrhaft volksthümlich sei,
darf er nicht vom Unterricht in den Anfangsgründen der socialen
Kenntnisse, d. h. der ersten Elemente des Lesens und Schreibens
getrennt werden: er muß für die Kinder ein Begleiter der ersten
moralischen und religiösen Belehrung sein, welche ihnen zu Theil
wird.

In den letzten Jahren des französischen Kaiserreichs und im
Anfang der Restaurationsperiode schienen einige Geistliche erkannt
zu haben, welch' nützlichen Bundesgenossen der religiöse Unterricht
in der Musik finden kann; denn in einigen Kirchen von Paris und
Südfrankreich lehrte man den Kindern geistliche Lieder nach einfachen
und bekannten Melodien singen. Diese Lieder, von denen man


nicht als öffentliche, Jedermann zugängliche Schulanstalten betrachtet
werden: dem eigentlichen Volke blieben auch die einfachsten Begriffe
der Kunst fremd. Diese vollständige Unwissenheit nun war ein gro¬
ßer Nachtheil, nicht blos in Bezug auf die Kunst selbst, sondern auch
wegen des heilsamen Einflusses, den die Musik auf die Sitten aus¬
übt. Es ist dieser wohlthätige Einfluß der Musik auf die sittliche
Ausbildung der Völker zu oft und mit zu beredten Worten von großen
Philosophen und Staatsmännern der alten und neuen Zeiten aner¬
kannt und geschildert worden, als daß wir noch nöthig haben sollten,
hier weiter darauf einzugehen. Trotz dessen aber hat das gewöhn¬
liche Vorurtheil, wodurch dieser Kunst kein anderer Zweck als der
einer geistigen Zerstreuung gegeben wird, fortwährend seine Herr¬
schaft über die öffentliche Meinung behauptet und manche Regierun¬
gen selbst scheinen es getheilt zu haben, indem sie die Musik nicht
in den Kreis des Elementarunterrichts mit aufnahmen. Die Grün¬
dung einiger speziellen Musikschulen in Frankreich, Belgien, Spanien
und Italien widerlegt unsere Behauptung nicht; denn die natürliche Be¬
stimmung dieser Schulen ist, Künstler zu bilden, ihre Anzahl zu ver¬
mehren und sie in der Ausübung ihrer Kunst geschickter zu machen,
als sie durch Privaterziehung werden könnten. Ein ferneres Resul¬
tat des Daseins solcher Schulen ist, daß in gewissen Gesellschaften
der Geschmack an Musik ausgebreiteter wird; gäbe es aber deren auch
in jeder Stadt, so würden sie dennoch immer nur einen Auönahms-
unterricht bilden, weil es dem Willen jedes einzelnen Individuums
überlassen ist, daselbst Belehrung zu suchen oder nicht. Damit
der Elementarunterricht in der Musik wahrhaft volksthümlich sei,
darf er nicht vom Unterricht in den Anfangsgründen der socialen
Kenntnisse, d. h. der ersten Elemente des Lesens und Schreibens
getrennt werden: er muß für die Kinder ein Begleiter der ersten
moralischen und religiösen Belehrung sein, welche ihnen zu Theil
wird.

In den letzten Jahren des französischen Kaiserreichs und im
Anfang der Restaurationsperiode schienen einige Geistliche erkannt
zu haben, welch' nützlichen Bundesgenossen der religiöse Unterricht
in der Musik finden kann; denn in einigen Kirchen von Paris und
Südfrankreich lehrte man den Kindern geistliche Lieder nach einfachen
und bekannten Melodien singen. Diese Lieder, von denen man


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/220>, abgerufen am 23.07.2024.