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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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ist ihm das Uebernatürliche so unnatürlich, als das Uebermenschliche
unmenschlich ist. Er braucht, er begreift es nicht, will eS nicht
und will eS nicht dulden. Aber all dieser Sturm und Hohn gegen
religiöses und sittliches, trivial und matt gewordenes Bestehen beruht
auf einer kernhaften Natürlichkeit, welche an der Begeisterung, Tiefe
und Kräftigkeit des ersten christlichen Bewußtseins sich begeistert,
während sie das heutige Maulchristenthum, die Schaale Pietisterei,
das platte Dogmatisiren, die Saft- und Kraftlosigkeit deS modernen
religiösen Geistes ihrer gesunden Natur zuwider, zum Ekel findet,
wie alles Schlappe, Zwieschlächtige und Abgestandene. Wenn er
darum lieber gar keine Religion als die der Stunden der Andachten,
der Wirschel'schen Morgen- und Abendopfer, der Tractcitchen und
Pietisten will, so muß man eS wenigstens einer solchen Natur ho¬
mogen und am Ende auch zu gut halten, wenn man anders den
gesunden, tiefen, sittlichen Kern in dem seltsamen Manne anzuerken¬
nen fähig ist.

Feuerbach'S Naturalismus geht eben so sehr gegen den pietistisch-
christlichen Spiritualismus, als gegen den industriellen Materialis¬
mus, denen beiden man uns in den Rachen werfen will. Will er
tüchtige Sinne und gesunden Sinnengenuß für den rechten Men¬
schen, so will er ebenso warmes, frisches Herz und einen hellen,
energischen Kopf. Er will den ganzen Menschen, nicht den thieri¬
schen für sich, wie der Materialismus, nicht den geistigen für sich,
wie der Spiritualismus, sondern Leib, Seele und Geist in Einem,
harmonisch, lebendig, kräftig, ganz und gar, wie er sich selber kennt
und hat.

So haben ihn von dem gewöhnlichen, falsch verstandenen, glatt
getretenen Christenthum unserer Zeit, wie von der Zeitphilosophie
eben diese seine herrlichen 5 Sinne zugleich hinweggewiesen. Die
"verzwickte, untergeordnete Stellung, welche die Hegelsche Philosophie
der Natur gibt", trieb ihn aus der dumpfen Stubenluft des Systems, er
mußte von Anfang dagegen, wenn auch sich selbst noch nicht genug
bewußt, gegen die Lehre protestiren, welche in der Natur oder
Sinnlichkeit nur das Anders- oder Außersichsein des Geistes er¬
blickt, werde sie aus dem Katheder oder auf der Kanzel verkündigt.

Vermißte er aber in der speculativen Philosophie das Element
der Empirie, so vermißte er nicht minder in der herkömmlichen Em'


ist ihm das Uebernatürliche so unnatürlich, als das Uebermenschliche
unmenschlich ist. Er braucht, er begreift es nicht, will eS nicht
und will eS nicht dulden. Aber all dieser Sturm und Hohn gegen
religiöses und sittliches, trivial und matt gewordenes Bestehen beruht
auf einer kernhaften Natürlichkeit, welche an der Begeisterung, Tiefe
und Kräftigkeit des ersten christlichen Bewußtseins sich begeistert,
während sie das heutige Maulchristenthum, die Schaale Pietisterei,
das platte Dogmatisiren, die Saft- und Kraftlosigkeit deS modernen
religiösen Geistes ihrer gesunden Natur zuwider, zum Ekel findet,
wie alles Schlappe, Zwieschlächtige und Abgestandene. Wenn er
darum lieber gar keine Religion als die der Stunden der Andachten,
der Wirschel'schen Morgen- und Abendopfer, der Tractcitchen und
Pietisten will, so muß man eS wenigstens einer solchen Natur ho¬
mogen und am Ende auch zu gut halten, wenn man anders den
gesunden, tiefen, sittlichen Kern in dem seltsamen Manne anzuerken¬
nen fähig ist.

Feuerbach'S Naturalismus geht eben so sehr gegen den pietistisch-
christlichen Spiritualismus, als gegen den industriellen Materialis¬
mus, denen beiden man uns in den Rachen werfen will. Will er
tüchtige Sinne und gesunden Sinnengenuß für den rechten Men¬
schen, so will er ebenso warmes, frisches Herz und einen hellen,
energischen Kopf. Er will den ganzen Menschen, nicht den thieri¬
schen für sich, wie der Materialismus, nicht den geistigen für sich,
wie der Spiritualismus, sondern Leib, Seele und Geist in Einem,
harmonisch, lebendig, kräftig, ganz und gar, wie er sich selber kennt
und hat.

So haben ihn von dem gewöhnlichen, falsch verstandenen, glatt
getretenen Christenthum unserer Zeit, wie von der Zeitphilosophie
eben diese seine herrlichen 5 Sinne zugleich hinweggewiesen. Die
„verzwickte, untergeordnete Stellung, welche die Hegelsche Philosophie
der Natur gibt", trieb ihn aus der dumpfen Stubenluft des Systems, er
mußte von Anfang dagegen, wenn auch sich selbst noch nicht genug
bewußt, gegen die Lehre protestiren, welche in der Natur oder
Sinnlichkeit nur das Anders- oder Außersichsein des Geistes er¬
blickt, werde sie aus dem Katheder oder auf der Kanzel verkündigt.

Vermißte er aber in der speculativen Philosophie das Element
der Empirie, so vermißte er nicht minder in der herkömmlichen Em'


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/22>, abgerufen am 23.07.2024.