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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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wir vielleicht Alle als Beleg dienen müssen, daß des Menschen Leben
nur eine Spanne mißt. "Braucht es denn mehr?" pflegte er ohne
Lächeln zu sagen. "Ich für mein Theil habe kein Gelüsten über
diese faßbare, ebene Linie hinauszuschweifen, in welche die Götter
mich gebannt haben. Von Lüneburg bis nach Göttingen, und von
Göttingen wieder zurück über Seesen nach Lüneburg, das ist meine
Lebenslinie, die fürmich ausreicht, und für die ich auch ausreichen werde."
Ich könnte ihn um diesen engen Gesichtskreis beneiden. Liegt nicht ein gan¬
zer Menschenlebenslauf in diesen Paar Ortsnamen ? Geburt, Jünglings¬
freiheit und Dienst, das ist Alles und ist genug. Weiter bringt eS kein
Mensch, singt Göthe, der den' ganzen menschlichen Beruf auf fünf
natürliche Dinge beschränkt. "In dieser Gegend, in diesem Haus,
Zimmer und Sessel," argumentirte mein Theolog, "bin ich bei mir
selbst, ein vernünftiges, bewußtes Wesen, überall sonst bin ich ein
fahrender, zweckloser Tourist, ein Ungeheuer wie Faust, ohne Herz
und Wurzeln, een Hausirer, der um elenden Kram und Tand sich
in den Tod rennt. Glück ist Nuhe! Zwischen dem Lüneburger
Bl.insfeld und dem Hanstein an der Werra, zwischen den Heidschnucken,
meinen Landsleuten, und den Eichsfeldern liegen alle Höhen und
Tiefen, die mein Auge jemals geschaut, alle Fluren, die mein brau¬
ner Ziegcnhainer geschlagen, alle Wasser, die mein Nuder gepeitscht
hat. Die Essigweinberge bet Witzenhausen sind für mich Nhcin-
und Moselberge, Tokayer- und Champagnerland. Soll ich noch
einmal in's Weite, so lasse ich die Schweiz und Italien, ja selbst
Belgien, wohin jetzt eine rasende Mode alle Welt treibt, zur Seite
liegen und pflanze meinen Pilgerstab in den deutschen Musensitzen
auf, um mich mit Hand und Blick zu versichern, ob der alte Eichen-
stamm akademischer Hoheit und Lust noch florirt." Mein Freund
war zu seiner Zeit, obschon ohne Parteifarben, ohne Abzeichen, als
ein simpler Mann deS Volks, im höchsten Grade für die Bräuche
der Studentenrepublik begeistert, wie nur ein Ma^on an Hammer
und Schurz hängen kann. Glaubte er, was man uns jetzt in die
Ohren schreit, daß das goldne Zeitalter deutschen Burschenreichs ver¬
lebt sei, so würde er an dem Heil der Menschheit grade so irre
werden, wie ein französischer Premier, der die Majorität sich durch
die Finger gleiten fühlt. Gegenwärtig ist er der treuste, schwitzendste,
hannoverischste Staatsdiener von der Welt; alle Göttinger Schwin-


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wir vielleicht Alle als Beleg dienen müssen, daß des Menschen Leben
nur eine Spanne mißt. „Braucht es denn mehr?" pflegte er ohne
Lächeln zu sagen. „Ich für mein Theil habe kein Gelüsten über
diese faßbare, ebene Linie hinauszuschweifen, in welche die Götter
mich gebannt haben. Von Lüneburg bis nach Göttingen, und von
Göttingen wieder zurück über Seesen nach Lüneburg, das ist meine
Lebenslinie, die fürmich ausreicht, und für die ich auch ausreichen werde."
Ich könnte ihn um diesen engen Gesichtskreis beneiden. Liegt nicht ein gan¬
zer Menschenlebenslauf in diesen Paar Ortsnamen ? Geburt, Jünglings¬
freiheit und Dienst, das ist Alles und ist genug. Weiter bringt eS kein
Mensch, singt Göthe, der den' ganzen menschlichen Beruf auf fünf
natürliche Dinge beschränkt. „In dieser Gegend, in diesem Haus,
Zimmer und Sessel," argumentirte mein Theolog, „bin ich bei mir
selbst, ein vernünftiges, bewußtes Wesen, überall sonst bin ich ein
fahrender, zweckloser Tourist, ein Ungeheuer wie Faust, ohne Herz
und Wurzeln, een Hausirer, der um elenden Kram und Tand sich
in den Tod rennt. Glück ist Nuhe! Zwischen dem Lüneburger
Bl.insfeld und dem Hanstein an der Werra, zwischen den Heidschnucken,
meinen Landsleuten, und den Eichsfeldern liegen alle Höhen und
Tiefen, die mein Auge jemals geschaut, alle Fluren, die mein brau¬
ner Ziegcnhainer geschlagen, alle Wasser, die mein Nuder gepeitscht
hat. Die Essigweinberge bet Witzenhausen sind für mich Nhcin-
und Moselberge, Tokayer- und Champagnerland. Soll ich noch
einmal in's Weite, so lasse ich die Schweiz und Italien, ja selbst
Belgien, wohin jetzt eine rasende Mode alle Welt treibt, zur Seite
liegen und pflanze meinen Pilgerstab in den deutschen Musensitzen
auf, um mich mit Hand und Blick zu versichern, ob der alte Eichen-
stamm akademischer Hoheit und Lust noch florirt." Mein Freund
war zu seiner Zeit, obschon ohne Parteifarben, ohne Abzeichen, als
ein simpler Mann deS Volks, im höchsten Grade für die Bräuche
der Studentenrepublik begeistert, wie nur ein Ma^on an Hammer
und Schurz hängen kann. Glaubte er, was man uns jetzt in die
Ohren schreit, daß das goldne Zeitalter deutschen Burschenreichs ver¬
lebt sei, so würde er an dem Heil der Menschheit grade so irre
werden, wie ein französischer Premier, der die Majorität sich durch
die Finger gleiten fühlt. Gegenwärtig ist er der treuste, schwitzendste,
hannoverischste Staatsdiener von der Welt; alle Göttinger Schwin-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/211>, abgerufen am 23.07.2024.