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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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dalsvstem, noch patricisch, wie im Alterthum; sie ist ein mir
durch rohe Gewalt, fast nach Art des Sklavenhandels, begründetes
Factum.

Der Kaiserthron hat sie stets nur durch ihren Verrath kennen
gelernt; obgleich man, streng genommen, ihrem Benehmen diesen
Namen nicht gut geben kann; denn Verrath setzt vorheriges Treue-
gelöbniß voraus; sie aber hat nie Treue angelobt; diese glänzende
Eigenschaft ist der russischen Aristokratie gänzlich unbekannt. Das
Volk hat von ihr nur Unterdrückung zu erfahren; eigentlich kennt
sie daS russische Volk gar nicht; es kennt nur seine Herrn, denen
es leibeigen ist, denen es wie ein todter Besitz angehört. Der Ge¬
schichte bleibt es als festbegründete Wahrheit erworben, daß man die
Kaiser ermordet, nicht um den Despotismus zu mildern, wie
man hier mit scheußlicher Ironie sich ausdrückt, sondern um die Be¬
freiung der Alleinherrschergewalt und des Volkes von der Aristokra¬
tie zu verhindern.

Obgleich der jetzt regierende Kaiser nicht sehr unternehmend ist
in Bezug auf große Staatsstreiche, obgleich es ihm an der nöthigen
Kühnheit mangelt, um eine in ihren Resultaten unberechenbare Re¬
form zu unternehmen, so fehlt es ihm doch weder an Fähigkeit noch
an Muth, weder an Willenskraft noch an Energie: die beiden letz¬
ten, von ihm erlassenen Ukase und die Umstände, von denen ihre
Bekanntmachung begleitet war, betreffend die Verhältnisse der
Leibeigenen zu ihren Herren, werden Ihnen darthun, daß diese
Würdigung seines Charakters richtig ist. Nachdem er nämlich den
ersten Mas schon an die Provtnzialgouverneure versandt hatte, be¬
gab er sich erst in den Senat, um dessen gewissermaßen nachträgliche
Beistimmung zu dem von ihm gefaßten Entschlüsse zu verlangen;
aber hier scheint sich eine so entschiedene Mißstimmung über das
Vorgegangene kund gegeben zu haben, daß der Kaiser einen zwei¬
ten Ukas erließ, worin er den ersten dergestalt modificirte, daß der
Zustand der russischen Bauern derselbe blieb, der er vor der Publi¬
kation beider Ukase gewesen! !

> Man darf sich jedoch auch die Bedeutung des ersten Ukases
nicht übertreiben; derselbe schaffte nicht etwa die Leibeigenschaft von
Grund aus ab, sondern gestaltete sie nur bedeutend um: er versetzte
die Bauern, welche Privateigenthum sind, ihren Herrn gegenüber


dalsvstem, noch patricisch, wie im Alterthum; sie ist ein mir
durch rohe Gewalt, fast nach Art des Sklavenhandels, begründetes
Factum.

Der Kaiserthron hat sie stets nur durch ihren Verrath kennen
gelernt; obgleich man, streng genommen, ihrem Benehmen diesen
Namen nicht gut geben kann; denn Verrath setzt vorheriges Treue-
gelöbniß voraus; sie aber hat nie Treue angelobt; diese glänzende
Eigenschaft ist der russischen Aristokratie gänzlich unbekannt. Das
Volk hat von ihr nur Unterdrückung zu erfahren; eigentlich kennt
sie daS russische Volk gar nicht; es kennt nur seine Herrn, denen
es leibeigen ist, denen es wie ein todter Besitz angehört. Der Ge¬
schichte bleibt es als festbegründete Wahrheit erworben, daß man die
Kaiser ermordet, nicht um den Despotismus zu mildern, wie
man hier mit scheußlicher Ironie sich ausdrückt, sondern um die Be¬
freiung der Alleinherrschergewalt und des Volkes von der Aristokra¬
tie zu verhindern.

Obgleich der jetzt regierende Kaiser nicht sehr unternehmend ist
in Bezug auf große Staatsstreiche, obgleich es ihm an der nöthigen
Kühnheit mangelt, um eine in ihren Resultaten unberechenbare Re¬
form zu unternehmen, so fehlt es ihm doch weder an Fähigkeit noch
an Muth, weder an Willenskraft noch an Energie: die beiden letz¬
ten, von ihm erlassenen Ukase und die Umstände, von denen ihre
Bekanntmachung begleitet war, betreffend die Verhältnisse der
Leibeigenen zu ihren Herren, werden Ihnen darthun, daß diese
Würdigung seines Charakters richtig ist. Nachdem er nämlich den
ersten Mas schon an die Provtnzialgouverneure versandt hatte, be¬
gab er sich erst in den Senat, um dessen gewissermaßen nachträgliche
Beistimmung zu dem von ihm gefaßten Entschlüsse zu verlangen;
aber hier scheint sich eine so entschiedene Mißstimmung über das
Vorgegangene kund gegeben zu haben, daß der Kaiser einen zwei¬
ten Ukas erließ, worin er den ersten dergestalt modificirte, daß der
Zustand der russischen Bauern derselbe blieb, der er vor der Publi¬
kation beider Ukase gewesen! !

> Man darf sich jedoch auch die Bedeutung des ersten Ukases
nicht übertreiben; derselbe schaffte nicht etwa die Leibeigenschaft von
Grund aus ab, sondern gestaltete sie nur bedeutend um: er versetzte
die Bauern, welche Privateigenthum sind, ihren Herrn gegenüber


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[0129] dalsvstem, noch patricisch, wie im Alterthum; sie ist ein mir durch rohe Gewalt, fast nach Art des Sklavenhandels, begründetes Factum. Der Kaiserthron hat sie stets nur durch ihren Verrath kennen gelernt; obgleich man, streng genommen, ihrem Benehmen diesen Namen nicht gut geben kann; denn Verrath setzt vorheriges Treue- gelöbniß voraus; sie aber hat nie Treue angelobt; diese glänzende Eigenschaft ist der russischen Aristokratie gänzlich unbekannt. Das Volk hat von ihr nur Unterdrückung zu erfahren; eigentlich kennt sie daS russische Volk gar nicht; es kennt nur seine Herrn, denen es leibeigen ist, denen es wie ein todter Besitz angehört. Der Ge¬ schichte bleibt es als festbegründete Wahrheit erworben, daß man die Kaiser ermordet, nicht um den Despotismus zu mildern, wie man hier mit scheußlicher Ironie sich ausdrückt, sondern um die Be¬ freiung der Alleinherrschergewalt und des Volkes von der Aristokra¬ tie zu verhindern. Obgleich der jetzt regierende Kaiser nicht sehr unternehmend ist in Bezug auf große Staatsstreiche, obgleich es ihm an der nöthigen Kühnheit mangelt, um eine in ihren Resultaten unberechenbare Re¬ form zu unternehmen, so fehlt es ihm doch weder an Fähigkeit noch an Muth, weder an Willenskraft noch an Energie: die beiden letz¬ ten, von ihm erlassenen Ukase und die Umstände, von denen ihre Bekanntmachung begleitet war, betreffend die Verhältnisse der Leibeigenen zu ihren Herren, werden Ihnen darthun, daß diese Würdigung seines Charakters richtig ist. Nachdem er nämlich den ersten Mas schon an die Provtnzialgouverneure versandt hatte, be¬ gab er sich erst in den Senat, um dessen gewissermaßen nachträgliche Beistimmung zu dem von ihm gefaßten Entschlüsse zu verlangen; aber hier scheint sich eine so entschiedene Mißstimmung über das Vorgegangene kund gegeben zu haben, daß der Kaiser einen zwei¬ ten Ukas erließ, worin er den ersten dergestalt modificirte, daß der Zustand der russischen Bauern derselbe blieb, der er vor der Publi¬ kation beider Ukase gewesen! ! > Man darf sich jedoch auch die Bedeutung des ersten Ukases nicht übertreiben; derselbe schaffte nicht etwa die Leibeigenschaft von Grund aus ab, sondern gestaltete sie nur bedeutend um: er versetzte die Bauern, welche Privateigenthum sind, ihren Herrn gegenüber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/129>, abgerufen am 23.07.2024.