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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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gedeihen zu lassen und sein weites Reich auf Institutionen zu begründen,
die der christlichen Staatsidee und des 19ten Jahrhunderts, das,
wenn auch unter den blutigen Auspicien der Napoleonischen, doch auch
einer neuen fruchtbringenden Aera begonnen, würdig wären. Daher
verschwor sich die Aristokratie unaufhörlich gegen das Leben Alerander's,
weil er freisinnig war; und selbst, als er später alle die großherzi¬
gen Eingebungen seiner Seele als leere Täuschungen und bedauerns-
werthe Irrthümer bei Seite warf und so allen Verschwörungen den
Grund benahm, selbst da hörten die Complote nicht auf. Und der¬
selbe dürre Egoismus ist es, der heutzutage und zwar mit noch harr-
näckigerem Eifer gegen Kaiser Nikolaus sich verschwört und zwar
nicht ohne Grund. Denn mit Ausnahme Peter's des Großen hat
noch kein russischer Ezar so lange auf dem Throne gesessen als
Nikolaus: er herrscht schon seit 16 Jahren, d. h. seit doppelt so
lange, als sein Bruder Alexander regiert hat, der von den 25 Jah¬
ren seiner Negierung nicht 8 in Rußland selbst zugebracht hat.

Während Alerander's Abwesenheit regierte die Aristokratie den
Staat, wie sie wollte; -- nun aber wird Kaiser Nikolaus, persön¬
liche Macht täglich drohender für die Aristokratie. Er könnte zuletzt
die monarchische Gewalt vom Einfluß der Aristokraten befreien, in¬
dem er W Millionen Leibeigenen ihre Freiheit schenkte. Und das kann
die russische Aristokratie durchaus nicht wünschen; denn diese doppelte
Emancipation wäre für sie ein Todesstreich. Sie weiß dies gar
wohl, denn ihr schuldbewußtes Gewissen ruft ihr zu, daß sie weder
um den Thron noch um das Volk sich verdient gemacht: sie hat den
einen zu oft mit Blut befleckt und das andere zu lange unterdrückt.
Sie hat zu dem jetzigen blühenden Zustande Rußlands auf keine
Weise beigetragen: zu dem dreifachen Gebäude des Vaterlandes, der
Gesellschaft, des Staates hat sie keinen der Grundsteine gelegt; diese
sind ohne ihre Nothhilfe, ja, gegen ihren dawiderstrebenren Willen
begründet worden. Die russische Aristokratie hat nicht allein keine
geschichtliche Geltung, sondern sie ist auch in politischer und gesell¬
schaftlicher Beziehung eine Monstrosität, ein Unding, das durchaus
nicht vernünftig begründet ist, eben so wenig als die Burgfleckenherr-
schast in England. Das Princip ihrer Existenz hat weder in der
noch in jener Theorie seine Quelle; sie ist weder patriarchalisch, wie
bei de:r andern slavischen Völkern, noch lehnsherrlich, wie im Fen-


gedeihen zu lassen und sein weites Reich auf Institutionen zu begründen,
die der christlichen Staatsidee und des 19ten Jahrhunderts, das,
wenn auch unter den blutigen Auspicien der Napoleonischen, doch auch
einer neuen fruchtbringenden Aera begonnen, würdig wären. Daher
verschwor sich die Aristokratie unaufhörlich gegen das Leben Alerander's,
weil er freisinnig war; und selbst, als er später alle die großherzi¬
gen Eingebungen seiner Seele als leere Täuschungen und bedauerns-
werthe Irrthümer bei Seite warf und so allen Verschwörungen den
Grund benahm, selbst da hörten die Complote nicht auf. Und der¬
selbe dürre Egoismus ist es, der heutzutage und zwar mit noch harr-
näckigerem Eifer gegen Kaiser Nikolaus sich verschwört und zwar
nicht ohne Grund. Denn mit Ausnahme Peter's des Großen hat
noch kein russischer Ezar so lange auf dem Throne gesessen als
Nikolaus: er herrscht schon seit 16 Jahren, d. h. seit doppelt so
lange, als sein Bruder Alexander regiert hat, der von den 25 Jah¬
ren seiner Negierung nicht 8 in Rußland selbst zugebracht hat.

Während Alerander's Abwesenheit regierte die Aristokratie den
Staat, wie sie wollte; — nun aber wird Kaiser Nikolaus, persön¬
liche Macht täglich drohender für die Aristokratie. Er könnte zuletzt
die monarchische Gewalt vom Einfluß der Aristokraten befreien, in¬
dem er W Millionen Leibeigenen ihre Freiheit schenkte. Und das kann
die russische Aristokratie durchaus nicht wünschen; denn diese doppelte
Emancipation wäre für sie ein Todesstreich. Sie weiß dies gar
wohl, denn ihr schuldbewußtes Gewissen ruft ihr zu, daß sie weder
um den Thron noch um das Volk sich verdient gemacht: sie hat den
einen zu oft mit Blut befleckt und das andere zu lange unterdrückt.
Sie hat zu dem jetzigen blühenden Zustande Rußlands auf keine
Weise beigetragen: zu dem dreifachen Gebäude des Vaterlandes, der
Gesellschaft, des Staates hat sie keinen der Grundsteine gelegt; diese
sind ohne ihre Nothhilfe, ja, gegen ihren dawiderstrebenren Willen
begründet worden. Die russische Aristokratie hat nicht allein keine
geschichtliche Geltung, sondern sie ist auch in politischer und gesell¬
schaftlicher Beziehung eine Monstrosität, ein Unding, das durchaus
nicht vernünftig begründet ist, eben so wenig als die Burgfleckenherr-
schast in England. Das Princip ihrer Existenz hat weder in der
noch in jener Theorie seine Quelle; sie ist weder patriarchalisch, wie
bei de:r andern slavischen Völkern, noch lehnsherrlich, wie im Fen-


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[0128] gedeihen zu lassen und sein weites Reich auf Institutionen zu begründen, die der christlichen Staatsidee und des 19ten Jahrhunderts, das, wenn auch unter den blutigen Auspicien der Napoleonischen, doch auch einer neuen fruchtbringenden Aera begonnen, würdig wären. Daher verschwor sich die Aristokratie unaufhörlich gegen das Leben Alerander's, weil er freisinnig war; und selbst, als er später alle die großherzi¬ gen Eingebungen seiner Seele als leere Täuschungen und bedauerns- werthe Irrthümer bei Seite warf und so allen Verschwörungen den Grund benahm, selbst da hörten die Complote nicht auf. Und der¬ selbe dürre Egoismus ist es, der heutzutage und zwar mit noch harr- näckigerem Eifer gegen Kaiser Nikolaus sich verschwört und zwar nicht ohne Grund. Denn mit Ausnahme Peter's des Großen hat noch kein russischer Ezar so lange auf dem Throne gesessen als Nikolaus: er herrscht schon seit 16 Jahren, d. h. seit doppelt so lange, als sein Bruder Alexander regiert hat, der von den 25 Jah¬ ren seiner Negierung nicht 8 in Rußland selbst zugebracht hat. Während Alerander's Abwesenheit regierte die Aristokratie den Staat, wie sie wollte; — nun aber wird Kaiser Nikolaus, persön¬ liche Macht täglich drohender für die Aristokratie. Er könnte zuletzt die monarchische Gewalt vom Einfluß der Aristokraten befreien, in¬ dem er W Millionen Leibeigenen ihre Freiheit schenkte. Und das kann die russische Aristokratie durchaus nicht wünschen; denn diese doppelte Emancipation wäre für sie ein Todesstreich. Sie weiß dies gar wohl, denn ihr schuldbewußtes Gewissen ruft ihr zu, daß sie weder um den Thron noch um das Volk sich verdient gemacht: sie hat den einen zu oft mit Blut befleckt und das andere zu lange unterdrückt. Sie hat zu dem jetzigen blühenden Zustande Rußlands auf keine Weise beigetragen: zu dem dreifachen Gebäude des Vaterlandes, der Gesellschaft, des Staates hat sie keinen der Grundsteine gelegt; diese sind ohne ihre Nothhilfe, ja, gegen ihren dawiderstrebenren Willen begründet worden. Die russische Aristokratie hat nicht allein keine geschichtliche Geltung, sondern sie ist auch in politischer und gesell¬ schaftlicher Beziehung eine Monstrosität, ein Unding, das durchaus nicht vernünftig begründet ist, eben so wenig als die Burgfleckenherr- schast in England. Das Princip ihrer Existenz hat weder in der noch in jener Theorie seine Quelle; sie ist weder patriarchalisch, wie bei de:r andern slavischen Völkern, noch lehnsherrlich, wie im Fen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/128>, abgerufen am 23.07.2024.