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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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Gesetzlichkeit gehabt haben. Unparteilichkeit also und Gerechtigkeit für die
Ideen! -- denn indem wir darin nachgraben, finden wir fast immer sowohl
den Menschen im Allgemeinen, als den Menschen der Zeit und des Orts.
Ernsthaftes und unbefangenes Studium der Formen! -- denn beinahe Alle
haben in sich einen Geist des Lebens, der nur auf die Fackel des Genies war¬
tet, um sich zu entzünden. Und in der That, um bei unserm Beispiele zu
bleiben, was sind die Mysterien bei der Mehrzahl der Völker Europa's?
eine Kuriosität für den Gelehrten. Wohl! Lope de Vega und Calde-
ron machten unter dem Namen Autos Sacramentales Mysterien, wel¬
che die schönste Blüthe der dramatischen Krone Spaniens sind. Das Zeitalter
des Ruhmes für das englische Theater ist in Frankreich das Zeitalter der Un¬
ordnung und der Finsterniß, weil der Hardi Englands sich Shakspeare,
und der Shakspeare Frankreichs sich Hardi nannte. Dagegen ist die Tra¬
gödie Nacine's seit zweihundert Jahren der Typus des französischen Trauer¬
spiels, und unser Zeitalter wiegt sich in der wahrscheinlich thörichten Hoff¬
nung, zweimal auf demselben Felde dem Genie zu begegnen, welches die Form
belebt.

Vielleicht glaubt man, daß die ritterlichen Gedichte der französischen Spra¬
che gefehlt haben? Sie hat deren nicht weniger als Italien. Bloß der Dich¬
ter hat gefehlt. Wo ist Frankreichs Tasso, Ariost? Deutschland hat das
Nibelungenlied, unförmig, aber gewaltig; Frankreich hat alle epischen For¬
men erschöpft, und doch könnt Ihr mit Recht sagen: Frankreich hat keine
Epopöe.

Was ist denn nun das literarische Genie? Tiefes, verehrungswürdiges
Geheimniß, welches Alle fühlen, Niemand erklärt, nicht einmal das Genie
selbst. Ist's irgend eine Kraft, welche eine Welt aus Nichts schafft? Nein.
Gott allein kommt es zu, Ursache und nichts als Ursache zu sein; der Mensch
ist nur Ursache unter der Bedingung, daß er auch Wirkung ist. Das litera-
rische Genie ist also nicht erschaffend in der wahren Bedeutung des Wortes,
aber es hat die Macht und die Kühnheit (denn oft ist das Eine nicht weni¬
ger nöthig, als das Andere), sowohl die innigsten Gefühle, als die vorgerückte¬
sten Ideen seiner Epoche in sich zu sammeln und nach Außen hin zu offenba¬
ren, alle zerstreuten Strahlen zu vereinigen, um sie sofort mit der Kraft, wel¬
che erleuchtet und entzündet, widerzuspiegeln. Seine Sendung geht dahin,
auf der einen Seite die ewig menschliche, auf der andern die vergänglich na¬
tionale Wahrheit darzustellen; den Gedanken Aller in der Sprache Aller aus¬
zudrücken, aber so auszudrücken, daß es den Ausdruck zu seiner höchsten Kraft
erhebt, zugleich den hervorragendsten Geistern und den Massen des Volkes zu
genügen; eine fruchtbare Quelle, der sich jedes Gefäß und jede Lippe nähern
kann, wo Jeder schöpfen, und welche Niemand versiegen machen kann.

Gesetzlichkeit gehabt haben. Unparteilichkeit also und Gerechtigkeit für die
Ideen! — denn indem wir darin nachgraben, finden wir fast immer sowohl
den Menschen im Allgemeinen, als den Menschen der Zeit und des Orts.
Ernsthaftes und unbefangenes Studium der Formen! — denn beinahe Alle
haben in sich einen Geist des Lebens, der nur auf die Fackel des Genies war¬
tet, um sich zu entzünden. Und in der That, um bei unserm Beispiele zu
bleiben, was sind die Mysterien bei der Mehrzahl der Völker Europa's?
eine Kuriosität für den Gelehrten. Wohl! Lope de Vega und Calde-
ron machten unter dem Namen Autos Sacramentales Mysterien, wel¬
che die schönste Blüthe der dramatischen Krone Spaniens sind. Das Zeitalter
des Ruhmes für das englische Theater ist in Frankreich das Zeitalter der Un¬
ordnung und der Finsterniß, weil der Hardi Englands sich Shakspeare,
und der Shakspeare Frankreichs sich Hardi nannte. Dagegen ist die Tra¬
gödie Nacine's seit zweihundert Jahren der Typus des französischen Trauer¬
spiels, und unser Zeitalter wiegt sich in der wahrscheinlich thörichten Hoff¬
nung, zweimal auf demselben Felde dem Genie zu begegnen, welches die Form
belebt.

Vielleicht glaubt man, daß die ritterlichen Gedichte der französischen Spra¬
che gefehlt haben? Sie hat deren nicht weniger als Italien. Bloß der Dich¬
ter hat gefehlt. Wo ist Frankreichs Tasso, Ariost? Deutschland hat das
Nibelungenlied, unförmig, aber gewaltig; Frankreich hat alle epischen For¬
men erschöpft, und doch könnt Ihr mit Recht sagen: Frankreich hat keine
Epopöe.

Was ist denn nun das literarische Genie? Tiefes, verehrungswürdiges
Geheimniß, welches Alle fühlen, Niemand erklärt, nicht einmal das Genie
selbst. Ist's irgend eine Kraft, welche eine Welt aus Nichts schafft? Nein.
Gott allein kommt es zu, Ursache und nichts als Ursache zu sein; der Mensch
ist nur Ursache unter der Bedingung, daß er auch Wirkung ist. Das litera-
rische Genie ist also nicht erschaffend in der wahren Bedeutung des Wortes,
aber es hat die Macht und die Kühnheit (denn oft ist das Eine nicht weni¬
ger nöthig, als das Andere), sowohl die innigsten Gefühle, als die vorgerückte¬
sten Ideen seiner Epoche in sich zu sammeln und nach Außen hin zu offenba¬
ren, alle zerstreuten Strahlen zu vereinigen, um sie sofort mit der Kraft, wel¬
che erleuchtet und entzündet, widerzuspiegeln. Seine Sendung geht dahin,
auf der einen Seite die ewig menschliche, auf der andern die vergänglich na¬
tionale Wahrheit darzustellen; den Gedanken Aller in der Sprache Aller aus¬
zudrücken, aber so auszudrücken, daß es den Ausdruck zu seiner höchsten Kraft
erhebt, zugleich den hervorragendsten Geistern und den Massen des Volkes zu
genügen; eine fruchtbare Quelle, der sich jedes Gefäß und jede Lippe nähern
kann, wo Jeder schöpfen, und welche Niemand versiegen machen kann.

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[24/0032] Gesetzlichkeit gehabt haben. Unparteilichkeit also und Gerechtigkeit für die Ideen! — denn indem wir darin nachgraben, finden wir fast immer sowohl den Menschen im Allgemeinen, als den Menschen der Zeit und des Orts. Ernsthaftes und unbefangenes Studium der Formen! — denn beinahe Alle haben in sich einen Geist des Lebens, der nur auf die Fackel des Genies war¬ tet, um sich zu entzünden. Und in der That, um bei unserm Beispiele zu bleiben, was sind die Mysterien bei der Mehrzahl der Völker Europa's? eine Kuriosität für den Gelehrten. Wohl! Lope de Vega und Calde- ron machten unter dem Namen Autos Sacramentales Mysterien, wel¬ che die schönste Blüthe der dramatischen Krone Spaniens sind. Das Zeitalter des Ruhmes für das englische Theater ist in Frankreich das Zeitalter der Un¬ ordnung und der Finsterniß, weil der Hardi Englands sich Shakspeare, und der Shakspeare Frankreichs sich Hardi nannte. Dagegen ist die Tra¬ gödie Nacine's seit zweihundert Jahren der Typus des französischen Trauer¬ spiels, und unser Zeitalter wiegt sich in der wahrscheinlich thörichten Hoff¬ nung, zweimal auf demselben Felde dem Genie zu begegnen, welches die Form belebt. Vielleicht glaubt man, daß die ritterlichen Gedichte der französischen Spra¬ che gefehlt haben? Sie hat deren nicht weniger als Italien. Bloß der Dich¬ ter hat gefehlt. Wo ist Frankreichs Tasso, Ariost? Deutschland hat das Nibelungenlied, unförmig, aber gewaltig; Frankreich hat alle epischen For¬ men erschöpft, und doch könnt Ihr mit Recht sagen: Frankreich hat keine Epopöe. Was ist denn nun das literarische Genie? Tiefes, verehrungswürdiges Geheimniß, welches Alle fühlen, Niemand erklärt, nicht einmal das Genie selbst. Ist's irgend eine Kraft, welche eine Welt aus Nichts schafft? Nein. Gott allein kommt es zu, Ursache und nichts als Ursache zu sein; der Mensch ist nur Ursache unter der Bedingung, daß er auch Wirkung ist. Das litera- rische Genie ist also nicht erschaffend in der wahren Bedeutung des Wortes, aber es hat die Macht und die Kühnheit (denn oft ist das Eine nicht weni¬ ger nöthig, als das Andere), sowohl die innigsten Gefühle, als die vorgerückte¬ sten Ideen seiner Epoche in sich zu sammeln und nach Außen hin zu offenba¬ ren, alle zerstreuten Strahlen zu vereinigen, um sie sofort mit der Kraft, wel¬ che erleuchtet und entzündet, widerzuspiegeln. Seine Sendung geht dahin, auf der einen Seite die ewig menschliche, auf der andern die vergänglich na¬ tionale Wahrheit darzustellen; den Gedanken Aller in der Sprache Aller aus¬ zudrücken, aber so auszudrücken, daß es den Ausdruck zu seiner höchsten Kraft erhebt, zugleich den hervorragendsten Geistern und den Massen des Volkes zu genügen; eine fruchtbare Quelle, der sich jedes Gefäß und jede Lippe nähern kann, wo Jeder schöpfen, und welche Niemand versiegen machen kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/32>, abgerufen am 23.11.2024.