Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

und Wachsthume der Poesie.
dergestalt alle zum singen gemacht; und die Music gab ihnen
das rechte Leben. So gar als allmählig die Heldengedichte,
Tragödien, Comödien und Schäfer-Gedichte auf kamen,
war noch der Gesang ein unentbehrliches Stück bey allen.

Das Helden-Gedicht entstund aus den Lobliedern auf
Götter oder Helden, indem Homerus seine Jlias, so er dem
Achilles zu Ehren gemacht hatte, nach allen Rhapsodien, d. i.
Stücken oder Büchern desselben, in Griechenland soll öffent-
lich abgesungen haben. Die Tragödien und Comödien ent-
stunden aus den satirischen Spottliedern, die auf den Dör-
fern, an Fest-Tagen, von lustigen Köpfen, die Bauren zu
vergnügen, gesungen wurden: Wie nachmahls aus eigenen
Capiteln von diesen beyden Arten ausführlicher erhellen
wird. Die Schäfer-Gedichte entstunden aus den verliebten
Liedern, welche sonderlich in Arcadien und Sicilien, als ein
paar fruchtbaren und geseegneten Landschafften, mögen im
Schwange gewesen seyn: weil nehmlich daselbst der Uberfluß
an Lebens-Mitteln, die müßigen Schäfer gar leicht zu diesem
annehmlichen Affecte reitzen konnte.

Bey allen diesen Gattungen der Poesien nun, verlohr
sich allmählich das Singen. Die Helden-Gedichte Homeri
sind wohl nach der Zeit, als Pisistratus sie in Ordnung ge-
bracht, in Griechenland nicht mehr gesungen, sondern nur
gelesen worden: dafern man nicht das Lesen eines harmoni-
schen Verßes auch einen Gesang nennen will. Jn der Tra-
gödie blieb nur der Chor musicalisch, der auch in der That
lauter Oden sang. Alles übrige, was zwischen den Liedern
des Chores eingeschaltet wurde, und aus einem blossen Neben-
wercke bald das Hauptwerck ward, pflegte nicht gesungen,
sondern nur geredet zu werden: weswegen denn auch die jam-
bischen Verße dabey gebraucht wurden, als welche mit der
ungebundenen Sprache der Griechen sehr überein kamen. Bey
der Comödie war es anfänglich eben so, bis endlich der Chor,
wegen seiner Schmähsucht, gar von der Obrigkeit verboten
ward, und also verstummen muste, wie Horatius sagt. Was
es aber bedeute, wenn die Aufschrifften der Terentianischen
Comödien sagen, daß dieselben mit dieser oder jener Art von

Pfei-
E 4

und Wachsthume der Poeſie.
dergeſtalt alle zum ſingen gemacht; und die Muſic gab ihnen
das rechte Leben. So gar als allmaͤhlig die Heldengedichte,
Tragoͤdien, Comoͤdien und Schaͤfer-Gedichte auf kamen,
war noch der Geſang ein unentbehrliches Stuͤck bey allen.

Das Helden-Gedicht entſtund aus den Lobliedern auf
Goͤtter oder Helden, indem Homerus ſeine Jlias, ſo er dem
Achilles zu Ehren gemacht hatte, nach allen Rhapſodien, d. i.
Stuͤcken oder Buͤchern deſſelben, in Griechenland ſoll oͤffent-
lich abgeſungen haben. Die Tragoͤdien und Comoͤdien ent-
ſtunden aus den ſatiriſchen Spottliedern, die auf den Doͤr-
fern, an Feſt-Tagen, von luſtigen Koͤpfen, die Bauren zu
vergnuͤgen, geſungen wurden: Wie nachmahls aus eigenen
Capiteln von dieſen beyden Arten ausfuͤhrlicher erhellen
wird. Die Schaͤfer-Gedichte entſtunden aus den verliebten
Liedern, welche ſonderlich in Arcadien und Sicilien, als ein
paar fruchtbaren und geſeegneten Landſchafften, moͤgen im
Schwange geweſen ſeyn: weil nehmlich daſelbſt der Uberfluß
an Lebens-Mitteln, die muͤßigen Schaͤfer gar leicht zu dieſem
annehmlichen Affecte reitzen konnte.

Bey allen dieſen Gattungen der Poeſien nun, verlohr
ſich allmaͤhlich das Singen. Die Helden-Gedichte Homeri
ſind wohl nach der Zeit, als Piſiſtratus ſie in Ordnung ge-
bracht, in Griechenland nicht mehr geſungen, ſondern nur
geleſen worden: dafern man nicht das Leſen eines harmoni-
ſchen Verßes auch einen Geſang nennen will. Jn der Tra-
goͤdie blieb nur der Chor muſicaliſch, der auch in der That
lauter Oden ſang. Alles uͤbrige, was zwiſchen den Liedern
des Chores eingeſchaltet wurde, und aus einem bloſſen Neben-
wercke bald das Hauptwerck ward, pflegte nicht geſungen,
ſondern nur geredet zu werden: weswegen denn auch die jam-
biſchen Verße dabey gebraucht wurden, als welche mit der
ungebundenen Sprache der Griechen ſehr uͤberein kamen. Bey
der Comoͤdie war es anfaͤnglich eben ſo, bis endlich der Chor,
wegen ſeiner Schmaͤhſucht, gar von der Obrigkeit verboten
ward, und alſo verſtummen muſte, wie Horatius ſagt. Was
es aber bedeute, wenn die Aufſchrifften der Terentianiſchen
Comoͤdien ſagen, daß dieſelben mit dieſer oder jener Art von

Pfei-
E 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0099" n="71"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Wachsthume der Poe&#x017F;ie.</hi></fw><lb/>
derge&#x017F;talt alle zum &#x017F;ingen gemacht; und die Mu&#x017F;ic gab ihnen<lb/>
das rechte Leben. So gar als allma&#x0364;hlig die Heldengedichte,<lb/>
Trago&#x0364;dien, Como&#x0364;dien und Scha&#x0364;fer-Gedichte auf kamen,<lb/>
war noch der Ge&#x017F;ang ein unentbehrliches Stu&#x0364;ck bey allen.</p><lb/>
          <p>Das Helden-Gedicht ent&#x017F;tund aus den Lobliedern auf<lb/>
Go&#x0364;tter oder Helden, indem Homerus &#x017F;eine Jlias, &#x017F;o er dem<lb/>
Achilles zu Ehren gemacht hatte, nach allen Rhap&#x017F;odien, d. i.<lb/>
Stu&#x0364;cken oder Bu&#x0364;chern de&#x017F;&#x017F;elben, in Griechenland &#x017F;oll o&#x0364;ffent-<lb/>
lich abge&#x017F;ungen haben. Die Trago&#x0364;dien und Como&#x0364;dien ent-<lb/>
&#x017F;tunden aus den &#x017F;atiri&#x017F;chen Spottliedern, die auf den Do&#x0364;r-<lb/>
fern, an Fe&#x017F;t-Tagen, von lu&#x017F;tigen Ko&#x0364;pfen, die Bauren zu<lb/>
vergnu&#x0364;gen, ge&#x017F;ungen wurden: Wie nachmahls aus eigenen<lb/>
Capiteln von die&#x017F;en beyden Arten ausfu&#x0364;hrlicher erhellen<lb/>
wird. Die Scha&#x0364;fer-Gedichte ent&#x017F;tunden aus den verliebten<lb/>
Liedern, welche &#x017F;onderlich in Arcadien und Sicilien, als ein<lb/>
paar fruchtbaren und ge&#x017F;eegneten Land&#x017F;chafften, mo&#x0364;gen im<lb/>
Schwange gewe&#x017F;en &#x017F;eyn: weil nehmlich da&#x017F;elb&#x017F;t der Uberfluß<lb/>
an Lebens-Mitteln, die mu&#x0364;ßigen Scha&#x0364;fer gar leicht zu die&#x017F;em<lb/>
annehmlichen Affecte reitzen konnte.</p><lb/>
          <p>Bey allen die&#x017F;en Gattungen der Poe&#x017F;ien nun, verlohr<lb/>
&#x017F;ich allma&#x0364;hlich das Singen. Die Helden-Gedichte Homeri<lb/>
&#x017F;ind wohl nach der Zeit, als Pi&#x017F;i&#x017F;tratus &#x017F;ie in Ordnung ge-<lb/>
bracht, in Griechenland nicht mehr ge&#x017F;ungen, &#x017F;ondern nur<lb/>
gele&#x017F;en worden: dafern man nicht das Le&#x017F;en eines harmoni-<lb/>
&#x017F;chen Verßes auch einen Ge&#x017F;ang nennen will. Jn der Tra-<lb/>
go&#x0364;die blieb nur der Chor mu&#x017F;icali&#x017F;ch, der auch in der That<lb/>
lauter Oden &#x017F;ang. Alles u&#x0364;brige, was zwi&#x017F;chen den Liedern<lb/>
des Chores einge&#x017F;chaltet wurde, und aus einem blo&#x017F;&#x017F;en Neben-<lb/>
wercke bald das Hauptwerck ward, pflegte nicht ge&#x017F;ungen,<lb/>
&#x017F;ondern nur geredet zu werden: weswegen denn auch die jam-<lb/>
bi&#x017F;chen Verße dabey gebraucht wurden, als welche mit der<lb/>
ungebundenen Sprache der Griechen &#x017F;ehr u&#x0364;berein kamen. Bey<lb/>
der Como&#x0364;die war es anfa&#x0364;nglich eben &#x017F;o, bis endlich der Chor,<lb/>
wegen &#x017F;einer Schma&#x0364;h&#x017F;ucht, gar von der Obrigkeit verboten<lb/>
ward, und al&#x017F;o ver&#x017F;tummen mu&#x017F;te, wie Horatius &#x017F;agt. Was<lb/>
es aber bedeute, wenn die Auf&#x017F;chrifften der Terentiani&#x017F;chen<lb/>
Como&#x0364;dien &#x017F;agen, daß die&#x017F;elben mit die&#x017F;er oder jener Art von<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E 4</fw><fw place="bottom" type="catch">Pfei-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0099] und Wachsthume der Poeſie. dergeſtalt alle zum ſingen gemacht; und die Muſic gab ihnen das rechte Leben. So gar als allmaͤhlig die Heldengedichte, Tragoͤdien, Comoͤdien und Schaͤfer-Gedichte auf kamen, war noch der Geſang ein unentbehrliches Stuͤck bey allen. Das Helden-Gedicht entſtund aus den Lobliedern auf Goͤtter oder Helden, indem Homerus ſeine Jlias, ſo er dem Achilles zu Ehren gemacht hatte, nach allen Rhapſodien, d. i. Stuͤcken oder Buͤchern deſſelben, in Griechenland ſoll oͤffent- lich abgeſungen haben. Die Tragoͤdien und Comoͤdien ent- ſtunden aus den ſatiriſchen Spottliedern, die auf den Doͤr- fern, an Feſt-Tagen, von luſtigen Koͤpfen, die Bauren zu vergnuͤgen, geſungen wurden: Wie nachmahls aus eigenen Capiteln von dieſen beyden Arten ausfuͤhrlicher erhellen wird. Die Schaͤfer-Gedichte entſtunden aus den verliebten Liedern, welche ſonderlich in Arcadien und Sicilien, als ein paar fruchtbaren und geſeegneten Landſchafften, moͤgen im Schwange geweſen ſeyn: weil nehmlich daſelbſt der Uberfluß an Lebens-Mitteln, die muͤßigen Schaͤfer gar leicht zu dieſem annehmlichen Affecte reitzen konnte. Bey allen dieſen Gattungen der Poeſien nun, verlohr ſich allmaͤhlich das Singen. Die Helden-Gedichte Homeri ſind wohl nach der Zeit, als Piſiſtratus ſie in Ordnung ge- bracht, in Griechenland nicht mehr geſungen, ſondern nur geleſen worden: dafern man nicht das Leſen eines harmoni- ſchen Verßes auch einen Geſang nennen will. Jn der Tra- goͤdie blieb nur der Chor muſicaliſch, der auch in der That lauter Oden ſang. Alles uͤbrige, was zwiſchen den Liedern des Chores eingeſchaltet wurde, und aus einem bloſſen Neben- wercke bald das Hauptwerck ward, pflegte nicht geſungen, ſondern nur geredet zu werden: weswegen denn auch die jam- biſchen Verße dabey gebraucht wurden, als welche mit der ungebundenen Sprache der Griechen ſehr uͤberein kamen. Bey der Comoͤdie war es anfaͤnglich eben ſo, bis endlich der Chor, wegen ſeiner Schmaͤhſucht, gar von der Obrigkeit verboten ward, und alſo verſtummen muſte, wie Horatius ſagt. Was es aber bedeute, wenn die Aufſchrifften der Terentianiſchen Comoͤdien ſagen, daß dieſelben mit dieſer oder jener Art von Pfei- E 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/99
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/99>, abgerufen am 24.11.2024.