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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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und Wachsthume der Poesie.
gar ohne Reim und Sylbenmaaß dichten, und bloß auf die
Länge der Zeilen sehen, wie Milton in seinem Paradise lost
gethan; welche Art der Verße sie blank Verses nennen. Exem-
pel davon mag ich hier nicht anführen; weil ich gar zu weit
von meinem Zwecke ausschweifen würde

Dacier, in seiner Vorrede zu der von ihm übersetzten
Dichtkunst Aristotelis, ist der Meynung, die Religion sey
die Hebamme der Poesie gewesen; uud man habe die ersten
Lieder bloß zum Lobe GOttes gemacht und abgesungen. Er
hat dieses mit andern von seinen Landesleuten gemein, daß sie
abergläubischer Weise, den Wissenschafften gern einen hei-
ligen Ursprung geben wollen. Was ist es aber nöthig, die
Poesie durch Fabeln in Ansehen zu setzen, da sie ohne dem
Liebhaber genug findet, wenn man gleich ihren Ursprung
aus der Natur selbst herleitet? Meines Erachtens würde
man nimmermehr auf die Gedancken gekommen seyn, GOtt
zu Ehren Lieder zu singen; wenn man nicht vorher schon ge-
wohnt gewesen wäre zu singen. Und ich glaube vielmehr, daß
man durch die geistlichen Lobgesänge, eine an sich selbst gleich-
gültige Sache geheiliget; als durch die weltlichen Lieder, eine
an sich heilige Sache entweyhet habe. Jch muthmaße also
daß die Poesie folgendermassen entstanden sey.

Wenn ein muntrer Kopf von gutem Naturelle sich bey
der Mahlzeit oder einem starcken Truncke das Geblüt erhitzet
und die Lebens-Geister rege gemacht hatte; hub er etwa an
vor Freuden zu singen, und sein Vergnügen auch durch dabey
ausgesprochene Worte zu bezeigen. Man lobte die Süßigkeit
des Weines, man pries den Berg, oder Stock darauf er ge-
wachsen; man erhob auch wohl das gute Jahr, die fruchtbare
Zeit, oder diejenige Gottheit so dergleichen Früchte hervorge-
bracht. Ein verliebter Schäfer, dem bey der langen Weile
auf dem Felde, wo er seine Heerde weidete, die Gegenwart
einer angenehmen Schäferin das Hertz rührete, und das Ge-
blüt in eine Wallung sezte, bemühte sich nach dem Muster der
Vögel ihr was vorzusingen, und bey einer lieblichen Melodie
zugleich seine Liebe zu erklären, ihr zu schmeicheln, ihre Schön-
heit zu loben, oder die Liebe selbst zu erheben. Als nachmahls

der
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und Wachsthume der Poeſie.
gar ohne Reim und Sylbenmaaß dichten, und bloß auf die
Laͤnge der Zeilen ſehen, wie Milton in ſeinem Paradiſe loſt
gethan; welche Art der Verße ſie blank Verſes nennen. Exem-
pel davon mag ich hier nicht anfuͤhren; weil ich gar zu weit
von meinem Zwecke ausſchweifen wuͤrde

Dacier, in ſeiner Vorrede zu der von ihm uͤberſetzten
Dichtkunſt Ariſtotelis, iſt der Meynung, die Religion ſey
die Hebamme der Poeſie geweſen; uud man habe die erſten
Lieder bloß zum Lobe GOttes gemacht und abgeſungen. Er
hat dieſes mit andern von ſeinen Landesleuten gemein, daß ſie
aberglaͤubiſcher Weiſe, den Wiſſenſchafften gern einen hei-
ligen Urſprung geben wollen. Was iſt es aber noͤthig, die
Poeſie durch Fabeln in Anſehen zu ſetzen, da ſie ohne dem
Liebhaber genug findet, wenn man gleich ihren Urſprung
aus der Natur ſelbſt herleitet? Meines Erachtens wuͤrde
man nimmermehr auf die Gedancken gekommen ſeyn, GOtt
zu Ehren Lieder zu ſingen; wenn man nicht vorher ſchon ge-
wohnt geweſen waͤre zu ſingen. Und ich glaube vielmehr, daß
man durch die geiſtlichen Lobgeſaͤnge, eine an ſich ſelbſt gleich-
guͤltige Sache geheiliget; als durch die weltlichen Lieder, eine
an ſich heilige Sache entweyhet habe. Jch muthmaße alſo
daß die Poeſie folgendermaſſen entſtanden ſey.

Wenn ein muntrer Kopf von gutem Naturelle ſich bey
der Mahlzeit oder einem ſtarcken Truncke das Gebluͤt erhitzet
und die Lebens-Geiſter rege gemacht hatte; hub er etwa an
vor Freuden zu ſingen, und ſein Vergnuͤgen auch durch dabey
ausgeſprochene Worte zu bezeigen. Man lobte die Suͤßigkeit
des Weines, man pries den Berg, oder Stock darauf er ge-
wachſen; man erhob auch wohl das gute Jahr, die fruchtbare
Zeit, oder diejenige Gottheit ſo dergleichen Fruͤchte hervorge-
bracht. Ein verliebter Schaͤfer, dem bey der langen Weile
auf dem Felde, wo er ſeine Heerde weidete, die Gegenwart
einer angenehmen Schaͤferin das Hertz ruͤhrete, und das Ge-
bluͤt in eine Wallung ſezte, bemuͤhte ſich nach dem Muſter der
Voͤgel ihr was vorzuſingen, und bey einer lieblichen Melodie
zugleich ſeine Liebe zu erklaͤren, ihr zu ſchmeicheln, ihre Schoͤn-
heit zu loben, oder die Liebe ſelbſt zu erheben. Als nachmahls

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[69/0097] und Wachsthume der Poeſie. gar ohne Reim und Sylbenmaaß dichten, und bloß auf die Laͤnge der Zeilen ſehen, wie Milton in ſeinem Paradiſe loſt gethan; welche Art der Verße ſie blank Verſes nennen. Exem- pel davon mag ich hier nicht anfuͤhren; weil ich gar zu weit von meinem Zwecke ausſchweifen wuͤrde Dacier, in ſeiner Vorrede zu der von ihm uͤberſetzten Dichtkunſt Ariſtotelis, iſt der Meynung, die Religion ſey die Hebamme der Poeſie geweſen; uud man habe die erſten Lieder bloß zum Lobe GOttes gemacht und abgeſungen. Er hat dieſes mit andern von ſeinen Landesleuten gemein, daß ſie aberglaͤubiſcher Weiſe, den Wiſſenſchafften gern einen hei- ligen Urſprung geben wollen. Was iſt es aber noͤthig, die Poeſie durch Fabeln in Anſehen zu ſetzen, da ſie ohne dem Liebhaber genug findet, wenn man gleich ihren Urſprung aus der Natur ſelbſt herleitet? Meines Erachtens wuͤrde man nimmermehr auf die Gedancken gekommen ſeyn, GOtt zu Ehren Lieder zu ſingen; wenn man nicht vorher ſchon ge- wohnt geweſen waͤre zu ſingen. Und ich glaube vielmehr, daß man durch die geiſtlichen Lobgeſaͤnge, eine an ſich ſelbſt gleich- guͤltige Sache geheiliget; als durch die weltlichen Lieder, eine an ſich heilige Sache entweyhet habe. Jch muthmaße alſo daß die Poeſie folgendermaſſen entſtanden ſey. Wenn ein muntrer Kopf von gutem Naturelle ſich bey der Mahlzeit oder einem ſtarcken Truncke das Gebluͤt erhitzet und die Lebens-Geiſter rege gemacht hatte; hub er etwa an vor Freuden zu ſingen, und ſein Vergnuͤgen auch durch dabey ausgeſprochene Worte zu bezeigen. Man lobte die Suͤßigkeit des Weines, man pries den Berg, oder Stock darauf er ge- wachſen; man erhob auch wohl das gute Jahr, die fruchtbare Zeit, oder diejenige Gottheit ſo dergleichen Fruͤchte hervorge- bracht. Ein verliebter Schaͤfer, dem bey der langen Weile auf dem Felde, wo er ſeine Heerde weidete, die Gegenwart einer angenehmen Schaͤferin das Hertz ruͤhrete, und das Ge- bluͤt in eine Wallung ſezte, bemuͤhte ſich nach dem Muſter der Voͤgel ihr was vorzuſingen, und bey einer lieblichen Melodie zugleich ſeine Liebe zu erklaͤren, ihr zu ſchmeicheln, ihre Schoͤn- heit zu loben, oder die Liebe ſelbſt zu erheben. Als nachmahls der E 3

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/97>, abgerufen am 25.04.2024.