übrige ist recht. Wer sieht aber nicht daß in der heutigen Aussprache in jenem das J, in den beyden letzten aber das eine E leichtlich verschlungen wird. Man sehe nur die Lieder an, so D. Luther schon vor 200 Jahren gemacht, so wird man ziemlich richtige Jambische oder trochaische Verße darinn finden. Jch darf zum Beweise nur den Glauben anführen, als wo beyde erwehnte Gattungen vermischt anzutreffen sind.
Wir gläuben all' an einen GOtt, Schöpfer Himmels und der Erden, Der sich zum Vater geben hat, Daß wir seine Kinder werden. Er will uns allzeit ernehren, Allem Unfall will er wehren, Er sorget für uns hüt' und wacht, Es steht alles in seiner Macht.
Ein jeder wird hier unschwer sehen, daß alle ausgerückte und männlich gereimte Verße jambisch; alle eingerückte weibliche hergegen trochäisch sind: Und das gantze Sylbenmaaß ist so richtig, daß nur in der letzten Zeile das einzige Wort alles, wieder seine Natur, vorn kurtz und hinten lang ausgesprochen werden darf. Wären nun seine Nachfolger in der Poesie den Spuren dieses grossen Vorgängers gefolget, so würden wir lange vor Opitzen taugliche Verße im Deutschen bekom- men haben. Da aber Hans Sachse und andre nach ihm, kein so zartes Gehör hatten, und bey der alten Art blieben: so muste freylich der itzt gedachte Vater unsrer gereinigten Poe- sie von neuem die Bahn darinn brechen. Er nahm sich die Holländer zum Muster, als wo schon Heins und Cats ihrem Vaterlande eben den Dienst geleistet hatten. Und also über- trifft nunmehro unsre deutsche Poesie an Kunst und Lieblich- keit des Wohlklanges, die Poesien aller Jtaliener, Franzo- sen und Spanier; weil wir nehmlich den Reim unsrer Vor- fahren mit dem majestätischen Sylbenmaaße der Griechen und Römer vereinbaret haben.
Was ich hier von den Deutschen sage, das gilt auch von Schweden, Dänen und Engelländern, wiewohl diese leztern auch noch zuweilen ohne Sylbenmaaß reimen: ja wohl
gar
Das I. Cap. Vom Urſprunge
uͤbrige iſt recht. Wer ſieht aber nicht daß in der heutigen Ausſprache in jenem das J, in den beyden letzten aber das eine E leichtlich verſchlungen wird. Man ſehe nur die Lieder an, ſo D. Luther ſchon vor 200 Jahren gemacht, ſo wird man ziemlich richtige Jambiſche oder trochaiſche Verße darinn finden. Jch darf zum Beweiſe nur den Glauben anfuͤhren, als wo beyde erwehnte Gattungen vermiſcht anzutreffen ſind.
Wir glaͤuben all’ an einen GOtt, Schoͤpfer Himmels und der Erden, Der ſich zum Vater geben hat, Daß wir ſeine Kinder werden. Er will uns allzeit ernehren, Allem Unfall will er wehren, Er ſorget fuͤr uns huͤt’ und wacht, Es ſteht alles in ſeiner Macht.
Ein jeder wird hier unſchwer ſehen, daß alle ausgeruͤckte und maͤnnlich gereimte Verße jambiſch; alle eingeruͤckte weibliche hergegen trochaͤiſch ſind: Und das gantze Sylbenmaaß iſt ſo richtig, daß nur in der letzten Zeile das einzige Wort alles, wieder ſeine Natur, vorn kurtz und hinten lang ausgeſprochen werden darf. Waͤren nun ſeine Nachfolger in der Poeſie den Spuren dieſes groſſen Vorgaͤngers gefolget, ſo wuͤrden wir lange vor Opitzen taugliche Verße im Deutſchen bekom- men haben. Da aber Hans Sachſe und andre nach ihm, kein ſo zartes Gehoͤr hatten, und bey der alten Art blieben: ſo muſte freylich der itzt gedachte Vater unſrer gereinigten Poe- ſie von neuem die Bahn darinn brechen. Er nahm ſich die Hollaͤnder zum Muſter, als wo ſchon Heins und Cats ihrem Vaterlande eben den Dienſt geleiſtet hatten. Und alſo uͤber- trifft nunmehro unſre deutſche Poeſie an Kunſt und Lieblich- keit des Wohlklanges, die Poeſien aller Jtaliener, Franzo- ſen und Spanier; weil wir nehmlich den Reim unſrer Vor- fahren mit dem majeſtaͤtiſchen Sylbenmaaße der Griechen und Roͤmer vereinbaret haben.
Was ich hier von den Deutſchen ſage, das gilt auch von Schweden, Daͤnen und Engellaͤndern, wiewohl dieſe leztern auch noch zuweilen ohne Sylbenmaaß reimen: ja wohl
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Das I. Cap. Vom Urſprunge
uͤbrige iſt recht. Wer ſieht aber nicht daß in der heutigen
Ausſprache in jenem das J, in den beyden letzten aber das eine
E leichtlich verſchlungen wird. Man ſehe nur die Lieder an,
ſo D. Luther ſchon vor 200 Jahren gemacht, ſo wird man
ziemlich richtige Jambiſche oder trochaiſche Verße darinn
finden. Jch darf zum Beweiſe nur den Glauben anfuͤhren,
als wo beyde erwehnte Gattungen vermiſcht anzutreffen ſind.
Wir glaͤuben all’ an einen GOtt,
Schoͤpfer Himmels und der Erden,
Der ſich zum Vater geben hat,
Daß wir ſeine Kinder werden.
Er will uns allzeit ernehren,
Allem Unfall will er wehren,
Er ſorget fuͤr uns huͤt’ und wacht,
Es ſteht alles in ſeiner Macht.
Ein jeder wird hier unſchwer ſehen, daß alle ausgeruͤckte und
maͤnnlich gereimte Verße jambiſch; alle eingeruͤckte weibliche
hergegen trochaͤiſch ſind: Und das gantze Sylbenmaaß iſt ſo
richtig, daß nur in der letzten Zeile das einzige Wort alles,
wieder ſeine Natur, vorn kurtz und hinten lang ausgeſprochen
werden darf. Waͤren nun ſeine Nachfolger in der Poeſie
den Spuren dieſes groſſen Vorgaͤngers gefolget, ſo wuͤrden
wir lange vor Opitzen taugliche Verße im Deutſchen bekom-
men haben. Da aber Hans Sachſe und andre nach ihm,
kein ſo zartes Gehoͤr hatten, und bey der alten Art blieben: ſo
muſte freylich der itzt gedachte Vater unſrer gereinigten Poe-
ſie von neuem die Bahn darinn brechen. Er nahm ſich die
Hollaͤnder zum Muſter, als wo ſchon Heins und Cats ihrem
Vaterlande eben den Dienſt geleiſtet hatten. Und alſo uͤber-
trifft nunmehro unſre deutſche Poeſie an Kunſt und Lieblich-
keit des Wohlklanges, die Poeſien aller Jtaliener, Franzo-
ſen und Spanier; weil wir nehmlich den Reim unſrer Vor-
fahren mit dem majeſtaͤtiſchen Sylbenmaaße der Griechen
und Roͤmer vereinbaret haben.
Was ich hier von den Deutſchen ſage, das gilt auch
von Schweden, Daͤnen und Engellaͤndern, wiewohl dieſe
leztern auch noch zuweilen ohne Sylbenmaaß reimen: ja wohl
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/96>, abgerufen am 24.11.2024.
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