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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils XII Capitel
"Maschinen verschwunden sind: Es ist ein Concert der Sän-
"ger-Stimmen, die durch Jnstrumente unterhalten werden.
Und auf der 93sten Seite stellt er die Tragödie mit der Oper in eine
Vergleichung: um zu zeigen, daß diese letzte keine musicalische
Tragödie heissen könne. "Ein tragisches Gedichte beklemmt
"euch gleich im Anfange das Hertz, und läst euch im Fortgange
"kaum die Zeit Athem zu holen und wieder zu euch selbst zu kom-
"men: Oder wenn es uns einiger massen ruhig werden läst, so
"stürtzt es uns gleich darauf nur in neue Verwirrungen und Ab-
"gründe. Es führt uns durch das Mitleiden zum Schrecken:
"oder umgekehrt, durch das Schrecken zum Mitleiden; und leitet
"durch Thränen, durch Seufzer, durch Furcht, durch Hofnung,
"durch Erstaunen und Entsetzen bis zum Ausgange. Da ist also
"kein Gewebe artiger Empfindungen und Sprüchelchen; zärtli-
"cher Erklärungen, verliebter Gespräche, anmuthiger Beschrei-
"bungen, süßlichter Zuckerworte; die zuweilen lustig genug sind,
"ein Gelächter zu erwecken: darauf sich denn unverhofft in dem
"letzten Auftritte die Aufrührischen, ohn alle vernünftige Ursache
"empören, und dem Wohlstande gemäß, noch Blut vergießen; in-
"dem es etwa einem Unglückseeligen das Leben kostet.

Mein andrer Zeuge soll Racine seyn, dessen Trauerspiele uns
gewiß einen hohen Begriff von seiner Stärcke in der Poesie bey-
bringen müssen. Die Gräfin von Montespan und ihre Schwe-
ster, waren der Opern des Quinaut überdrüßig geworden, und ba-
ten den König, doch einmahl durch den Racine dergleichen verfer-
tigen zu lassen. Aus Uebereilung, oder vielleicht aus Ehrerbie-
tung, übernahm dieser die Arbeit; und dachte nicht daran, was er
offt gegen den Boileau gesagt hatte: Es sey nicht möglich, eine
gute Oper zu machen; weil die Music zum Erzehlen sich nicht schi-
cket; und die Gemüthsbewegungen nicht in ihrer gehörigen Stär-
cke abgeschildert werden können; ja weil endlich die wahrhafftig
hohen und hertzhafftesten Ausdruckungen nicht können in die Mu-
sic gesetzet werden. Dieses stellte ihm Boileau vor, als er ihm
sein Versprechen eröffnete; und ungeachtet er demselben Recht gab,
so war es doch nicht mehr Zeit umzukehren. Er fieng also an von
dem Falle Phaetons eine Oper zu schmieden, und laß dem Könige
etliche Verße davon vor. Doch Racine arbeitete mit Verdruß

daran,

Des II Theils XII Capitel
„Maſchinen verſchwunden ſind: Es iſt ein Concert der Saͤn-
„ger-Stimmen, die durch Jnſtrumente unterhalten werden.
Und auf der 93ſten Seite ſtellt er die Tragoͤdie mit der Oper in eine
Vergleichung: um zu zeigen, daß dieſe letzte keine muſicaliſche
Tragoͤdie heiſſen koͤnne. „Ein tragiſches Gedichte beklemmt
„euch gleich im Anfange das Hertz, und laͤſt euch im Fortgange
„kaum die Zeit Athem zu holen und wieder zu euch ſelbſt zu kom-
„men: Oder wenn es uns einiger maſſen ruhig werden laͤſt, ſo
„ſtuͤrtzt es uns gleich darauf nur in neue Verwirrungen und Ab-
„gruͤnde. Es fuͤhrt uns durch das Mitleiden zum Schrecken:
„oder umgekehrt, durch das Schrecken zum Mitleiden; und leitet
„durch Thraͤnen, durch Seufzer, durch Furcht, durch Hofnung,
„durch Erſtaunen und Entſetzen bis zum Ausgange. Da iſt alſo
„kein Gewebe artiger Empfindungen und Spruͤchelchen; zaͤrtli-
„cher Erklaͤrungen, verliebter Geſpraͤche, anmuthiger Beſchrei-
„bungen, ſuͤßlichter Zuckerworte; die zuweilen luſtig genug ſind,
„ein Gelaͤchter zu erwecken: darauf ſich denn unverhofft in dem
„letzten Auftritte die Aufruͤhriſchen, ohn alle vernuͤnftige Urſache
„empoͤren, und dem Wohlſtande gemaͤß, noch Blut vergießen; in-
„dem es etwa einem Ungluͤckſeeligen das Leben koſtet.

Mein andrer Zeuge ſoll Racine ſeyn, deſſen Trauerſpiele uns
gewiß einen hohen Begriff von ſeiner Staͤrcke in der Poeſie bey-
bringen muͤſſen. Die Graͤfin von Monteſpan und ihre Schwe-
ſter, waren der Opern des Quinaut uͤberdruͤßig geworden, und ba-
ten den Koͤnig, doch einmahl durch den Racine dergleichen verfer-
tigen zu laſſen. Aus Uebereilung, oder vielleicht aus Ehrerbie-
tung, uͤbernahm dieſer die Arbeit; und dachte nicht daran, was er
offt gegen den Boileau geſagt hatte: Es ſey nicht moͤglich, eine
gute Oper zu machen; weil die Muſic zum Erzehlen ſich nicht ſchi-
cket; und die Gemuͤthsbewegungen nicht in ihrer gehoͤrigen Staͤr-
cke abgeſchildert werden koͤnnen; ja weil endlich die wahrhafftig
hohen und hertzhaffteſten Ausdruckungen nicht koͤnnen in die Mu-
ſic geſetzet werden. Dieſes ſtellte ihm Boileau vor, als er ihm
ſein Verſprechen eroͤffnete; und ungeachtet er demſelben Recht gab,
ſo war es doch nicht mehr Zeit umzukehren. Er fieng alſo an von
dem Falle Phaetons eine Oper zu ſchmieden, und laß dem Koͤnige
etliche Verße davon vor. Doch Racine arbeitete mit Verdruß

daran,
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[608/0636] Des II Theils XII Capitel „Maſchinen verſchwunden ſind: Es iſt ein Concert der Saͤn- „ger-Stimmen, die durch Jnſtrumente unterhalten werden. Und auf der 93ſten Seite ſtellt er die Tragoͤdie mit der Oper in eine Vergleichung: um zu zeigen, daß dieſe letzte keine muſicaliſche Tragoͤdie heiſſen koͤnne. „Ein tragiſches Gedichte beklemmt „euch gleich im Anfange das Hertz, und laͤſt euch im Fortgange „kaum die Zeit Athem zu holen und wieder zu euch ſelbſt zu kom- „men: Oder wenn es uns einiger maſſen ruhig werden laͤſt, ſo „ſtuͤrtzt es uns gleich darauf nur in neue Verwirrungen und Ab- „gruͤnde. Es fuͤhrt uns durch das Mitleiden zum Schrecken: „oder umgekehrt, durch das Schrecken zum Mitleiden; und leitet „durch Thraͤnen, durch Seufzer, durch Furcht, durch Hofnung, „durch Erſtaunen und Entſetzen bis zum Ausgange. Da iſt alſo „kein Gewebe artiger Empfindungen und Spruͤchelchen; zaͤrtli- „cher Erklaͤrungen, verliebter Geſpraͤche, anmuthiger Beſchrei- „bungen, ſuͤßlichter Zuckerworte; die zuweilen luſtig genug ſind, „ein Gelaͤchter zu erwecken: darauf ſich denn unverhofft in dem „letzten Auftritte die Aufruͤhriſchen, ohn alle vernuͤnftige Urſache „empoͤren, und dem Wohlſtande gemaͤß, noch Blut vergießen; in- „dem es etwa einem Ungluͤckſeeligen das Leben koſtet. Mein andrer Zeuge ſoll Racine ſeyn, deſſen Trauerſpiele uns gewiß einen hohen Begriff von ſeiner Staͤrcke in der Poeſie bey- bringen muͤſſen. Die Graͤfin von Monteſpan und ihre Schwe- ſter, waren der Opern des Quinaut uͤberdruͤßig geworden, und ba- ten den Koͤnig, doch einmahl durch den Racine dergleichen verfer- tigen zu laſſen. Aus Uebereilung, oder vielleicht aus Ehrerbie- tung, uͤbernahm dieſer die Arbeit; und dachte nicht daran, was er offt gegen den Boileau geſagt hatte: Es ſey nicht moͤglich, eine gute Oper zu machen; weil die Muſic zum Erzehlen ſich nicht ſchi- cket; und die Gemuͤthsbewegungen nicht in ihrer gehoͤrigen Staͤr- cke abgeſchildert werden koͤnnen; ja weil endlich die wahrhafftig hohen und hertzhaffteſten Ausdruckungen nicht koͤnnen in die Mu- ſic geſetzet werden. Dieſes ſtellte ihm Boileau vor, als er ihm ſein Verſprechen eroͤffnete; und ungeachtet er demſelben Recht gab, ſo war es doch nicht mehr Zeit umzukehren. Er fieng alſo an von dem Falle Phaetons eine Oper zu ſchmieden, und laß dem Koͤnige etliche Verße davon vor. Doch Racine arbeitete mit Verdruß daran,

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 608. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/636>, abgerufen am 29.03.2024.