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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Opern oder Singspielen.
die Jtalienische Sprache in dem Halse eines Castraten viel besser
klinge, als die Deutsche. Daher machen die meisten Opern auch
ein Mischmasch in der Mundart. Eine und dieselbe Person singet
bald deutsch bald italienisch; und ihre Zuschauer lassen sichs weiß
machen, das klinge überaus schön, was sie doch nicht verstehen.
Das ist aber nichts neues. Auch den deutschen Text versteht
man, dor so vielen Trillern und künstlichen Veränderungen der
Thöne, in einer mäßigen Entfernung von der Schaubühne, schon
nicht mehr, wo man nicht ein Buch hat, und durch das Lesen sich
einhilft. So ist denn die Oper ein bloßes Sinnen-Werck: der
Verstand und das Hertz bekommt nichts davon. Nur die Augen
werden geblendet; nur das Gehör wird gekützelt und betäubet.
Die Vernunft muß man zu Hause lassen, wenn man in die Oper
geht, damit sie nicht etwa durch ein gar zu kützliches Urtheil die gantze
Lust unterbreche. Man will gemeiniglich eine Oper eine musica-
lische Tragödie oder Comödie nennen. Allein umsonst. Sie
könnte so heißen, wenn sie nach den obigen Regeln der Alten einge-
richtet wäre: Aber man zeige mir doch solche Opern! Sind ja
etliche von der Art zu finden: so werden auch die rechten Kenner
derselben sie gewiß vor schlechte Stücke in der Art erklären, und
gegen alle andere verachten.

Bisher habe ich meine Gedancken von Opern mit Gründen
bestärcket: Nunmehro will ich mich wieder diejenigen mit Zeug-
nissen verwahren, die sich dadurch mehr, als durch gute Beweis-
thümer einnehmen lassen. Denn ich bin zu allem Glücke weder
der erste noch der einzige, der dieser Meynung von Opern bey-
pflichtet. Mein erster Wehrmann sey also la Bruyere, in seinen
Charactern Tom. I. p. 90. "Jch weiß nicht, sagt er, wie es
"kommt, daß die Opern bey einer so vollkommnen Music und recht
"königlichen Unkosten, nichts anders als Eckel und Verdruß bey
"mir gewircket haben. Es giebt Stellen in Opern, die mir ein Ver-
"langen nach andern dergleichen erwecken: Offt entfährt mir der
"Wunsch; daß sie doch nur bald zum Ende wäre! Bloß aus
"Schuld der Schaubühne, der Vorstellung und Mangel, anziehen-
"der Sachen. Bis auf diesen Tag ist die Oper kein Gedichte: sondern
"ein Vers, ja nicht einmahl ein Schauspiel; seitdem durch die
"Sparsamkeit Amphions (Lulli) und seiner Nachkommen die

"Ma-

Von Opern oder Singſpielen.
die Jtalieniſche Sprache in dem Halſe eines Caſtraten viel beſſer
klinge, als die Deutſche. Daher machen die meiſten Opern auch
ein Miſchmaſch in der Mundart. Eine und dieſelbe Perſon ſinget
bald deutſch bald italieniſch; und ihre Zuſchauer laſſen ſichs weiß
machen, das klinge uͤberaus ſchoͤn, was ſie doch nicht verſtehen.
Das iſt aber nichts neues. Auch den deutſchen Text verſteht
man, dor ſo vielen Trillern und kuͤnſtlichen Veraͤnderungen der
Thoͤne, in einer maͤßigen Entfernung von der Schaubuͤhne, ſchon
nicht mehr, wo man nicht ein Buch hat, und durch das Leſen ſich
einhilft. So iſt denn die Oper ein bloßes Sinnen-Werck: der
Verſtand und das Hertz bekommt nichts davon. Nur die Augen
werden geblendet; nur das Gehoͤr wird gekuͤtzelt und betaͤubet.
Die Vernunft muß man zu Hauſe laſſen, wenn man in die Oper
geht, damit ſie nicht etwa durch ein gar zu kuͤtzliches Urtheil die gantze
Luſt unterbreche. Man will gemeiniglich eine Oper eine muſica-
liſche Tragoͤdie oder Comoͤdie nennen. Allein umſonſt. Sie
koͤnnte ſo heißen, wenn ſie nach den obigen Regeln der Alten einge-
richtet waͤre: Aber man zeige mir doch ſolche Opern! Sind ja
etliche von der Art zu finden: ſo werden auch die rechten Kenner
derſelben ſie gewiß vor ſchlechte Stuͤcke in der Art erklaͤren, und
gegen alle andere verachten.

Bisher habe ich meine Gedancken von Opern mit Gruͤnden
beſtaͤrcket: Nunmehro will ich mich wieder diejenigen mit Zeug-
niſſen verwahren, die ſich dadurch mehr, als durch gute Beweis-
thuͤmer einnehmen laſſen. Denn ich bin zu allem Gluͤcke weder
der erſte noch der einzige, der dieſer Meynung von Opern bey-
pflichtet. Mein erſter Wehrmann ſey alſo la Bruyere, in ſeinen
Charactern Tom. I. p. 90. „Jch weiß nicht, ſagt er, wie es
„kommt, daß die Opern bey einer ſo vollkommnen Muſic und recht
„koͤniglichen Unkoſten, nichts anders als Eckel und Verdruß bey
„mir gewircket haben. Es giebt Stellen in Opern, die mir ein Ver-
„langen nach andern dergleichen erwecken: Offt entfaͤhrt mir der
„Wunſch; daß ſie doch nur bald zum Ende waͤre! Bloß aus
„Schuld der Schaubuͤhne, der Vorſtellung und Mangel, anziehen-
„der Sachen. Bis auf dieſen Tag iſt die Oper kein Gedichte: ſondern
„ein Vers, ja nicht einmahl ein Schauſpiel; ſeitdem durch die
„Sparſamkeit Amphions (Lulli) und ſeiner Nachkommen die

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[607/0635] Von Opern oder Singſpielen. die Jtalieniſche Sprache in dem Halſe eines Caſtraten viel beſſer klinge, als die Deutſche. Daher machen die meiſten Opern auch ein Miſchmaſch in der Mundart. Eine und dieſelbe Perſon ſinget bald deutſch bald italieniſch; und ihre Zuſchauer laſſen ſichs weiß machen, das klinge uͤberaus ſchoͤn, was ſie doch nicht verſtehen. Das iſt aber nichts neues. Auch den deutſchen Text verſteht man, dor ſo vielen Trillern und kuͤnſtlichen Veraͤnderungen der Thoͤne, in einer maͤßigen Entfernung von der Schaubuͤhne, ſchon nicht mehr, wo man nicht ein Buch hat, und durch das Leſen ſich einhilft. So iſt denn die Oper ein bloßes Sinnen-Werck: der Verſtand und das Hertz bekommt nichts davon. Nur die Augen werden geblendet; nur das Gehoͤr wird gekuͤtzelt und betaͤubet. Die Vernunft muß man zu Hauſe laſſen, wenn man in die Oper geht, damit ſie nicht etwa durch ein gar zu kuͤtzliches Urtheil die gantze Luſt unterbreche. Man will gemeiniglich eine Oper eine muſica- liſche Tragoͤdie oder Comoͤdie nennen. Allein umſonſt. Sie koͤnnte ſo heißen, wenn ſie nach den obigen Regeln der Alten einge- richtet waͤre: Aber man zeige mir doch ſolche Opern! Sind ja etliche von der Art zu finden: ſo werden auch die rechten Kenner derſelben ſie gewiß vor ſchlechte Stuͤcke in der Art erklaͤren, und gegen alle andere verachten. Bisher habe ich meine Gedancken von Opern mit Gruͤnden beſtaͤrcket: Nunmehro will ich mich wieder diejenigen mit Zeug- niſſen verwahren, die ſich dadurch mehr, als durch gute Beweis- thuͤmer einnehmen laſſen. Denn ich bin zu allem Gluͤcke weder der erſte noch der einzige, der dieſer Meynung von Opern bey- pflichtet. Mein erſter Wehrmann ſey alſo la Bruyere, in ſeinen Charactern Tom. I. p. 90. „Jch weiß nicht, ſagt er, wie es „kommt, daß die Opern bey einer ſo vollkommnen Muſic und recht „koͤniglichen Unkoſten, nichts anders als Eckel und Verdruß bey „mir gewircket haben. Es giebt Stellen in Opern, die mir ein Ver- „langen nach andern dergleichen erwecken: Offt entfaͤhrt mir der „Wunſch; daß ſie doch nur bald zum Ende waͤre! Bloß aus „Schuld der Schaubuͤhne, der Vorſtellung und Mangel, anziehen- „der Sachen. Bis auf dieſen Tag iſt die Oper kein Gedichte: ſondern „ein Vers, ja nicht einmahl ein Schauſpiel; ſeitdem durch die „Sparſamkeit Amphions (Lulli) und ſeiner Nachkommen die „Ma-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 607. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/635>, abgerufen am 19.04.2024.