und vertiefen ihre Thöne nach den Phantasien eines andern. Sie lachen und weinen, husten und schnupfen nach Noten. Sie schel- ten und klagen nach dem Tackte, und wenn sie sich aus Verzweife- lung das Leben nehmen, so verschieben sie ihre Heldenmäßige That so lange, bis sie ihre Triller ausgeschlagen haben. Wo ist doch das Urbild dieser Nachahmungen? Wo ist die Natur, mit der die- se Fabeln eine Aehnlichkeit haben?
Jch weiß es wohl, daß hie und da große Liebhaber und Bewundrer der Opern giebt, so sie vor das Meisterstück der menschlichen Erfindungs-Kunst; vor einen Zusammenfluß aller poetischen und musicalischen Schönheiten; vor einen Sammelplatz aller sinnlichen Ergetzlichkeiten ansehen. Allein ich weiß auch, daß alle diese Leute, die im übrigen gar vernünftige und rechtschaffene Männer seyn können; die wahren Theatralischen Regeln sich niemahls bekannt gemacht: oder dieselben doch nicht aus ihren Gründen hergeleitet gesehen. Sie halten derowegen in Sachen, die auf die Lust ankommen, alles vor willkührlich, und meynen, man müsse es damit nicht so genau nehmen. Was nur den Augen und Ohren gefiele, das wäre schon gut; und man müsse die Vernunft hier schweigen heißen, wenn sie uns dieses Vergnü- gens durch ihre critische Anmerckungen berauben wollte. Alle diese Vorstellungen heben meine obige Gründe nicht auf: und ich kan mich nicht entschließen, die Oper vor was natürliches, vor eine geschickte Nachahmung menschlicher Handlungen, oder überhaupt vor was schönes zu erklären. Jch sehe überdas dieselbe so an, wie sie ist; nehmlich als eine Beförderung der Wollust, und Verderberin guter Sitten. Die zärtlichsten Thöne, die geilesten Poesien, und die unzüchtigsten Bewegungen der Opern-Helden und ihrer verliebten Göttinnen bezaubern die unvorsichtigen Ge- müther, und flößen ihr ein Gifft ein, welches ohnedem von sich selbst schon Reitzungen genug hat. Denn wie wenige giebt es, die allen solchen Versuchungen, die sie auf einmahl bestürmen, zugleich wiederstehen können? So wird die Weichlichkeit von Jugend auf in die Gemüther der Leute gepflantzet, und wir werden den weibischen Jtalienern ähnlich, ehe wir es inne geworden, daß wir männliche Deutsche seyn sollten.
Es ist ohnedem das Vorurtheil bey uns eingerissen, daß so gar
die
Des II Theils XII Capitel
und vertiefen ihre Thoͤne nach den Phantaſien eines andern. Sie lachen und weinen, huſten und ſchnupfen nach Noten. Sie ſchel- ten und klagen nach dem Tackte, und wenn ſie ſich aus Verzweife- lung das Leben nehmen, ſo verſchieben ſie ihre Heldenmaͤßige That ſo lange, bis ſie ihre Triller ausgeſchlagen haben. Wo iſt doch das Urbild dieſer Nachahmungen? Wo iſt die Natur, mit der die- ſe Fabeln eine Aehnlichkeit haben?
Jch weiß es wohl, daß hie und da große Liebhaber und Bewundrer der Opern giebt, ſo ſie vor das Meiſterſtuͤck der menſchlichen Erfindungs-Kunſt; vor einen Zuſammenfluß aller poetiſchen und muſicaliſchen Schoͤnheiten; vor einen Sammelplatz aller ſinnlichen Ergetzlichkeiten anſehen. Allein ich weiß auch, daß alle dieſe Leute, die im uͤbrigen gar vernuͤnftige und rechtſchaffene Maͤnner ſeyn koͤnnen; die wahren Theatraliſchen Regeln ſich niemahls bekannt gemacht: oder dieſelben doch nicht aus ihren Gruͤnden hergeleitet geſehen. Sie halten derowegen in Sachen, die auf die Luſt ankommen, alles vor willkuͤhrlich, und meynen, man muͤſſe es damit nicht ſo genau nehmen. Was nur den Augen und Ohren gefiele, das waͤre ſchon gut; und man muͤſſe die Vernunft hier ſchweigen heißen, wenn ſie uns dieſes Vergnuͤ- gens durch ihre critiſche Anmerckungen berauben wollte. Alle dieſe Vorſtellungen heben meine obige Gruͤnde nicht auf: und ich kan mich nicht entſchließen, die Oper vor was natuͤrliches, vor eine geſchickte Nachahmung menſchlicher Handlungen, oder uͤberhaupt vor was ſchoͤnes zu erklaͤren. Jch ſehe uͤberdas dieſelbe ſo an, wie ſie iſt; nehmlich als eine Befoͤrderung der Wolluſt, und Verderberin guter Sitten. Die zaͤrtlichſten Thoͤne, die geileſten Poeſien, und die unzuͤchtigſten Bewegungen der Opern-Helden und ihrer verliebten Goͤttinnen bezaubern die unvorſichtigen Ge- muͤther, und floͤßen ihr ein Gifft ein, welches ohnedem von ſich ſelbſt ſchon Reitzungen genug hat. Denn wie wenige giebt es, die allen ſolchen Verſuchungen, die ſie auf einmahl beſtuͤrmen, zugleich wiederſtehen koͤnnen? So wird die Weichlichkeit von Jugend auf in die Gemuͤther der Leute gepflantzet, und wir werden den weibiſchen Jtalienern aͤhnlich, ehe wir es inne geworden, daß wir maͤnnliche Deutſche ſeyn ſollten.
Es iſt ohnedem das Vorurtheil bey uns eingeriſſen, daß ſo gar
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Des II Theils XII Capitel
und vertiefen ihre Thoͤne nach den Phantaſien eines andern. Sie
lachen und weinen, huſten und ſchnupfen nach Noten. Sie ſchel-
ten und klagen nach dem Tackte, und wenn ſie ſich aus Verzweife-
lung das Leben nehmen, ſo verſchieben ſie ihre Heldenmaͤßige That
ſo lange, bis ſie ihre Triller ausgeſchlagen haben. Wo iſt doch
das Urbild dieſer Nachahmungen? Wo iſt die Natur, mit der die-
ſe Fabeln eine Aehnlichkeit haben?
Jch weiß es wohl, daß hie und da große Liebhaber und
Bewundrer der Opern giebt, ſo ſie vor das Meiſterſtuͤck der
menſchlichen Erfindungs-Kunſt; vor einen Zuſammenfluß aller
poetiſchen und muſicaliſchen Schoͤnheiten; vor einen Sammelplatz
aller ſinnlichen Ergetzlichkeiten anſehen. Allein ich weiß auch, daß
alle dieſe Leute, die im uͤbrigen gar vernuͤnftige und rechtſchaffene
Maͤnner ſeyn koͤnnen; die wahren Theatraliſchen Regeln ſich
niemahls bekannt gemacht: oder dieſelben doch nicht aus ihren
Gruͤnden hergeleitet geſehen. Sie halten derowegen in Sachen,
die auf die Luſt ankommen, alles vor willkuͤhrlich, und meynen,
man muͤſſe es damit nicht ſo genau nehmen. Was nur den Augen
und Ohren gefiele, das waͤre ſchon gut; und man muͤſſe die
Vernunft hier ſchweigen heißen, wenn ſie uns dieſes Vergnuͤ-
gens durch ihre critiſche Anmerckungen berauben wollte. Alle
dieſe Vorſtellungen heben meine obige Gruͤnde nicht auf:
und ich kan mich nicht entſchließen, die Oper vor was natuͤrliches,
vor eine geſchickte Nachahmung menſchlicher Handlungen, oder
uͤberhaupt vor was ſchoͤnes zu erklaͤren. Jch ſehe uͤberdas dieſelbe
ſo an, wie ſie iſt; nehmlich als eine Befoͤrderung der Wolluſt, und
Verderberin guter Sitten. Die zaͤrtlichſten Thoͤne, die geileſten
Poeſien, und die unzuͤchtigſten Bewegungen der Opern-Helden
und ihrer verliebten Goͤttinnen bezaubern die unvorſichtigen Ge-
muͤther, und floͤßen ihr ein Gifft ein, welches ohnedem von ſich ſelbſt
ſchon Reitzungen genug hat. Denn wie wenige giebt es, die allen
ſolchen Verſuchungen, die ſie auf einmahl beſtuͤrmen, zugleich
wiederſtehen koͤnnen? So wird die Weichlichkeit von Jugend auf in
die Gemuͤther der Leute gepflantzet, und wir werden den weibiſchen
Jtalienern aͤhnlich, ehe wir es inne geworden, daß wir maͤnnliche
Deutſche ſeyn ſollten.
Es iſt ohnedem das Vorurtheil bey uns eingeriſſen, daß ſo gar
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 606. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/634>, abgerufen am 24.11.2024.
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