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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils XI Capitel
Schamhafftigkeit und Zucht, in der andern aber die Erbar-
keit aus den Augen setzen. Das will Boileau:

Le Comique, ennemi des soupirs & des pleurs,
N'admet point en ses Vers de tragiques douleurs.
Mais son emploi n'est pas d'aller dans une place,
De mots sales & bas charmer la populace.
Il faut que ses Acteurs badinent noblement.

Und dieses führet mich auf die Schreibart der Comödien.
Sie besteht aus den Gedancken und Ausdrückungen dersel-
ben, und hierinn ist die Comödie von der Tragödie sehr unter-
schieden. Das macht, daß dort fast lauter vornehme Leute;
hier aber Bürger und geringe Personen, Knechte und Mägde
vorkommen: dort die hefftigsten Gemüthsbewegungen herr-
schen, die sich durch einen pathetischen Ausdruck zu verstehen
geben; hier aber nur lauter lächerliche und lustige Sachen
vorkommen, wovon man in der gemeinen Sprache zu reden
gewohnt ist. Es muß also eine Comödie eine gantz natürliche
Schreibart haben, und wenn sie gleich in Verßen gesetzt wird,
doch die gemeinsten Redensarten beybehalten. Hierinn ist
Terentius abermahl unvergleichlich. Molieren hat Fenelon
in seinen Reflex. sur la Rhetorique & la Poetique deswegen ge-
tadelt; wie ich oben aus ihm bereits angeführet habe. Es
ist also kein Zweifel, ob man auch in Verßen könne Comödien
schreiben? Menander, Terentz und Moliere habens gethan;
warum sollte es im Deutschen nicht angehen? Nur es muß
keine poetische Schreibart darinnen herrschen, und außer dem
Sylbenmaaße sonst nichts gleißendes oder gekünsteltes dabey
vorkommen.

Von der Lustigkeit im Ausdrucke möchte mancher fra-
gen, wie man dazu gelangen könne? Jch antworte; das Lä-
cherliche der Comödien muß mehr aus den Sachen als Wor-
ten entstehen. Die seltsame Aufführung närrischer Leute
macht sie auslachens würdig. Man sehe einen Thraso im
Terentz, einen bürgerlichen Edelmann und eingebildeten
Krancken im Moliere an: so wird man sich des Lachens nicht
enthalten können; obgleich kein Wort an sich lächerlich ist.
Jmgleichen des Racine Comödie von der Proceßirsucht,
macht die Liebhaber der Zänckereyen, imgleichen die Franzö-

sischen

Des II Theils XI Capitel
Schamhafftigkeit und Zucht, in der andern aber die Erbar-
keit aus den Augen ſetzen. Das will Boileau:

Le Comique, ennemi des ſoupirs & des pleurs,
N’admet point en ſes Vers de tragiques douleurs.
Mais ſon emploi n’eſt pas d’aller dans une place,
De mots ſales & bas charmer la populace.
Il faut que ſes Acteurs badinent noblement.

Und dieſes fuͤhret mich auf die Schreibart der Comoͤdien.
Sie beſteht aus den Gedancken und Ausdruͤckungen derſel-
ben, und hierinn iſt die Comoͤdie von der Tragoͤdie ſehr unter-
ſchieden. Das macht, daß dort faſt lauter vornehme Leute;
hier aber Buͤrger und geringe Perſonen, Knechte und Maͤgde
vorkommen: dort die hefftigſten Gemuͤthsbewegungen herr-
ſchen, die ſich durch einen pathetiſchen Ausdruck zu verſtehen
geben; hier aber nur lauter laͤcherliche und luſtige Sachen
vorkommen, wovon man in der gemeinen Sprache zu reden
gewohnt iſt. Es muß alſo eine Comoͤdie eine gantz natuͤrliche
Schreibart haben, und wenn ſie gleich in Verßen geſetzt wird,
doch die gemeinſten Redensarten beybehalten. Hierinn iſt
Terentius abermahl unvergleichlich. Molieren hat Fenelon
in ſeinen Reflex. ſur la Rhetorique & la Poetique deswegen ge-
tadelt; wie ich oben aus ihm bereits angefuͤhret habe. Es
iſt alſo kein Zweifel, ob man auch in Verßen koͤnne Comoͤdien
ſchreiben? Menander, Terentz und Moliere habens gethan;
warum ſollte es im Deutſchen nicht angehen? Nur es muß
keine poetiſche Schreibart darinnen herrſchen, und außer dem
Sylbenmaaße ſonſt nichts gleißendes oder gekuͤnſteltes dabey
vorkommen.

Von der Luſtigkeit im Ausdrucke moͤchte mancher fra-
gen, wie man dazu gelangen koͤnne? Jch antworte; das Laͤ-
cherliche der Comoͤdien muß mehr aus den Sachen als Wor-
ten entſtehen. Die ſeltſame Auffuͤhrung naͤrriſcher Leute
macht ſie auslachens wuͤrdig. Man ſehe einen Thraſo im
Terentz, einen buͤrgerlichen Edelmann und eingebildeten
Krancken im Moliere an: ſo wird man ſich des Lachens nicht
enthalten koͤnnen; obgleich kein Wort an ſich laͤcherlich iſt.
Jmgleichen des Racine Comoͤdie von der Proceßirſucht,
macht die Liebhaber der Zaͤnckereyen, imgleichen die Franzoͤ-

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[600/0628] Des II Theils XI Capitel Schamhafftigkeit und Zucht, in der andern aber die Erbar- keit aus den Augen ſetzen. Das will Boileau: Le Comique, ennemi des ſoupirs & des pleurs, N’admet point en ſes Vers de tragiques douleurs. Mais ſon emploi n’eſt pas d’aller dans une place, De mots ſales & bas charmer la populace. Il faut que ſes Acteurs badinent noblement. Und dieſes fuͤhret mich auf die Schreibart der Comoͤdien. Sie beſteht aus den Gedancken und Ausdruͤckungen derſel- ben, und hierinn iſt die Comoͤdie von der Tragoͤdie ſehr unter- ſchieden. Das macht, daß dort faſt lauter vornehme Leute; hier aber Buͤrger und geringe Perſonen, Knechte und Maͤgde vorkommen: dort die hefftigſten Gemuͤthsbewegungen herr- ſchen, die ſich durch einen pathetiſchen Ausdruck zu verſtehen geben; hier aber nur lauter laͤcherliche und luſtige Sachen vorkommen, wovon man in der gemeinen Sprache zu reden gewohnt iſt. Es muß alſo eine Comoͤdie eine gantz natuͤrliche Schreibart haben, und wenn ſie gleich in Verßen geſetzt wird, doch die gemeinſten Redensarten beybehalten. Hierinn iſt Terentius abermahl unvergleichlich. Molieren hat Fenelon in ſeinen Reflex. ſur la Rhetorique & la Poetique deswegen ge- tadelt; wie ich oben aus ihm bereits angefuͤhret habe. Es iſt alſo kein Zweifel, ob man auch in Verßen koͤnne Comoͤdien ſchreiben? Menander, Terentz und Moliere habens gethan; warum ſollte es im Deutſchen nicht angehen? Nur es muß keine poetiſche Schreibart darinnen herrſchen, und außer dem Sylbenmaaße ſonſt nichts gleißendes oder gekuͤnſteltes dabey vorkommen. Von der Luſtigkeit im Ausdrucke moͤchte mancher fra- gen, wie man dazu gelangen koͤnne? Jch antworte; das Laͤ- cherliche der Comoͤdien muß mehr aus den Sachen als Wor- ten entſtehen. Die ſeltſame Auffuͤhrung naͤrriſcher Leute macht ſie auslachens wuͤrdig. Man ſehe einen Thraſo im Terentz, einen buͤrgerlichen Edelmann und eingebildeten Krancken im Moliere an: ſo wird man ſich des Lachens nicht enthalten koͤnnen; obgleich kein Wort an ſich laͤcherlich iſt. Jmgleichen des Racine Comoͤdie von der Proceßirſucht, macht die Liebhaber der Zaͤnckereyen, imgleichen die Franzoͤ- ſiſchen

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 600. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/628>, abgerufen am 24.11.2024.