Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite
Von Comödien oder Lustspielen.

Von den Characteren in der Comödie ist weiter nichts
besondres zu erinnern; als was bey der Tragödie schon vor-
gekommen. Man muß die Natur und Art der Menschen zu
beobachten wissen, jedem Alter, jedem Stande, jedem Ge-
schlechte, jedem Volcke solche Neigungen und Gemüthsarten
geben, als wir von ihnen gewohnt sind. Kommt ja einmahl
was außerordentliches vor; daß etwa ein Alter nicht geitzig,
ein Junger nicht verschwenderisch; ein Weib nicht weich her-
zig, ein Mann nicht behertzt ist: So muß der Zuschauer vor-
bereitet werden, solche ungewöhnliche Charactere vor wahr-
scheinlich zu halten: welches durch Erzehlung der Umstände
geschieht, die dazu was beygetragen haben. Man muß aber
die lächerlichen Charactere nicht zu hoch treiben. So bald der
Zuschauer glauben kan, so gar thöricht würde doch wohl kein
Mensch in der Welt seyn: so bald verliert der Character sei-
nen Werth. Darinn verstoßen es zuweilen auch die besten
Poeten; wie oben von dem Geitzhalse des Moliere bemercket
worden. Terentius ist hierinn überaus geschickt gewesen.
Alle seine Bilder leben:

Contemplez de quel air un Pere dans Terence,
Vient d'un Fils amoureux gourmander l'imprudence.
De quel air cet amant ecoute ses Lecons,
Et court chez sa maitresse oublier ces chansons.
Ce n'est pas un portrait, une image semblable,
C'est un amant, un Fils, un Pere veritable.

Von den Affecten ist hier ebenfalls nichts neues zu sagen;
als daß man die Tragischen, nehmlich die Furcht, das Schre-
cken und Mitleiden zu vermeiden habe. Alle übrige finden in
der Comödie auch statt. Ein zorniger Chremes, ein verliebter
Pamphilus; Ein stoltzer Thraso, ein lustiger Davus, u. d. m.
sind solche Gemüthsbewegungen, die eben kein Schrecken,
auch keine Verwunderung erwecken. Der Menedemus im
Terentz ist indessen so beschaffen, daß er gleich ein Mitleiden
bey uns erwecket: doch da solcher Affect nur gelinde bleibt; so
ist es eben kein Fehler. Von der Liebe und Lustigkeit darf
man wohl keine Regeln geben: denn darauf verfallen die ge-
meinsten Comödienmacher von sich selbst. Sie mögen sich
nur in achtnehmen, daß sie in der ersten nicht die Gesetze der

Scham-
P p 4
Von Comoͤdien oder Luſtſpielen.

Von den Characteren in der Comoͤdie iſt weiter nichts
beſondres zu erinnern; als was bey der Tragoͤdie ſchon vor-
gekommen. Man muß die Natur und Art der Menſchen zu
beobachten wiſſen, jedem Alter, jedem Stande, jedem Ge-
ſchlechte, jedem Volcke ſolche Neigungen und Gemuͤthsarten
geben, als wir von ihnen gewohnt ſind. Kommt ja einmahl
was außerordentliches vor; daß etwa ein Alter nicht geitzig,
ein Junger nicht verſchwenderiſch; ein Weib nicht weich her-
zig, ein Mann nicht behertzt iſt: So muß der Zuſchauer vor-
bereitet werden, ſolche ungewoͤhnliche Charactere vor wahr-
ſcheinlich zu halten: welches durch Erzehlung der Umſtaͤnde
geſchieht, die dazu was beygetragen haben. Man muß aber
die laͤcherlichen Charactere nicht zu hoch treiben. So bald der
Zuſchauer glauben kan, ſo gar thoͤricht wuͤrde doch wohl kein
Menſch in der Welt ſeyn: ſo bald verliert der Character ſei-
nen Werth. Darinn verſtoßen es zuweilen auch die beſten
Poeten; wie oben von dem Geitzhalſe des Moliere bemercket
worden. Terentius iſt hierinn uͤberaus geſchickt geweſen.
Alle ſeine Bilder leben:

Contemplez de quel air un Pere dans Terence,
Vient d’un Fils amoureux gourmander l’imprudence.
De quel air cet amant écoute ſes Leçons,
Et court chez ſa maitreſſe oublier ces chanſons.
Ce n’eſt pas un portrait, une image ſemblable,
C’eſt un amant, un Fils, un Pere veritable.

Von den Affecten iſt hier ebenfalls nichts neues zu ſagen;
als daß man die Tragiſchen, nehmlich die Furcht, das Schre-
cken und Mitleiden zu vermeiden habe. Alle uͤbrige finden in
der Comoͤdie auch ſtatt. Ein zorniger Chremes, ein verliebter
Pamphilus; Ein ſtoltzer Thraſo, ein luſtiger Davus, u. d. m.
ſind ſolche Gemuͤthsbewegungen, die eben kein Schrecken,
auch keine Verwunderung erwecken. Der Menedemus im
Terentz iſt indeſſen ſo beſchaffen, daß er gleich ein Mitleiden
bey uns erwecket: doch da ſolcher Affect nur gelinde bleibt; ſo
iſt es eben kein Fehler. Von der Liebe und Luſtigkeit darf
man wohl keine Regeln geben: denn darauf verfallen die ge-
meinſten Comoͤdienmacher von ſich ſelbſt. Sie moͤgen ſich
nur in achtnehmen, daß ſie in der erſten nicht die Geſetze der

Scham-
P p 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0627" n="599"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Von Como&#x0364;dien oder Lu&#x017F;t&#x017F;pielen.</hi> </fw><lb/>
          <p>Von den Characteren in der Como&#x0364;die i&#x017F;t weiter nichts<lb/>
be&#x017F;ondres zu erinnern; als was bey der Trago&#x0364;die &#x017F;chon vor-<lb/>
gekommen. Man muß die Natur und Art der Men&#x017F;chen zu<lb/>
beobachten wi&#x017F;&#x017F;en, jedem Alter, jedem Stande, jedem Ge-<lb/>
&#x017F;chlechte, jedem Volcke &#x017F;olche Neigungen und Gemu&#x0364;thsarten<lb/>
geben, als wir von ihnen gewohnt &#x017F;ind. Kommt ja einmahl<lb/>
was außerordentliches vor; daß etwa ein Alter nicht geitzig,<lb/>
ein Junger nicht ver&#x017F;chwenderi&#x017F;ch; ein Weib nicht weich her-<lb/>
zig, ein Mann nicht behertzt i&#x017F;t: So muß der Zu&#x017F;chauer vor-<lb/>
bereitet werden, &#x017F;olche ungewo&#x0364;hnliche Charactere vor wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlich zu halten: welches durch Erzehlung der Um&#x017F;ta&#x0364;nde<lb/>
ge&#x017F;chieht, die dazu was beygetragen haben. Man muß aber<lb/>
die la&#x0364;cherlichen Charactere nicht zu hoch treiben. So bald der<lb/>
Zu&#x017F;chauer glauben kan, &#x017F;o gar tho&#x0364;richt wu&#x0364;rde doch wohl kein<lb/>
Men&#x017F;ch in der Welt &#x017F;eyn: &#x017F;o bald verliert der Character &#x017F;ei-<lb/>
nen Werth. Darinn ver&#x017F;toßen es zuweilen auch die be&#x017F;ten<lb/>
Poeten; wie oben von dem Geitzhal&#x017F;e des Moliere bemercket<lb/>
worden. Terentius i&#x017F;t hierinn u&#x0364;beraus ge&#x017F;chickt gewe&#x017F;en.<lb/>
Alle &#x017F;eine Bilder leben:</p><lb/>
          <cit>
            <quote> <hi rendition="#aq">Contemplez de quel air un Pere dans Terence,<lb/>
Vient d&#x2019;un Fils amoureux gourmander l&#x2019;imprudence.<lb/>
De quel air cet amant écoute &#x017F;es Leçons,<lb/>
Et court chez &#x017F;a maitre&#x017F;&#x017F;e oublier ces chan&#x017F;ons.<lb/>
Ce n&#x2019;e&#x017F;t pas un portrait, une image &#x017F;emblable,<lb/>
C&#x2019;e&#x017F;t un amant, un Fils, un Pere veritable.</hi> </quote>
          </cit><lb/>
          <p>Von den Affecten i&#x017F;t hier ebenfalls nichts neues zu &#x017F;agen;<lb/>
als daß man die Tragi&#x017F;chen, nehmlich die Furcht, das Schre-<lb/>
cken und Mitleiden zu vermeiden habe. Alle u&#x0364;brige finden in<lb/>
der Como&#x0364;die auch &#x017F;tatt. Ein zorniger Chremes, ein verliebter<lb/>
Pamphilus; Ein &#x017F;toltzer Thra&#x017F;o, ein lu&#x017F;tiger Davus, u. d. m.<lb/>
&#x017F;ind &#x017F;olche Gemu&#x0364;thsbewegungen, die eben kein Schrecken,<lb/>
auch keine Verwunderung erwecken. Der Menedemus im<lb/>
Terentz i&#x017F;t inde&#x017F;&#x017F;en &#x017F;o be&#x017F;chaffen, daß er gleich ein Mitleiden<lb/>
bey uns erwecket: doch da &#x017F;olcher Affect nur gelinde bleibt; &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t es eben kein Fehler. Von der Liebe und Lu&#x017F;tigkeit darf<lb/>
man wohl keine Regeln geben: denn darauf verfallen die ge-<lb/>
mein&#x017F;ten Como&#x0364;dienmacher von &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t. Sie mo&#x0364;gen &#x017F;ich<lb/>
nur in achtnehmen, daß &#x017F;ie in der er&#x017F;ten nicht die Ge&#x017F;etze der<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P p 4</fw><fw place="bottom" type="catch">Scham-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[599/0627] Von Comoͤdien oder Luſtſpielen. Von den Characteren in der Comoͤdie iſt weiter nichts beſondres zu erinnern; als was bey der Tragoͤdie ſchon vor- gekommen. Man muß die Natur und Art der Menſchen zu beobachten wiſſen, jedem Alter, jedem Stande, jedem Ge- ſchlechte, jedem Volcke ſolche Neigungen und Gemuͤthsarten geben, als wir von ihnen gewohnt ſind. Kommt ja einmahl was außerordentliches vor; daß etwa ein Alter nicht geitzig, ein Junger nicht verſchwenderiſch; ein Weib nicht weich her- zig, ein Mann nicht behertzt iſt: So muß der Zuſchauer vor- bereitet werden, ſolche ungewoͤhnliche Charactere vor wahr- ſcheinlich zu halten: welches durch Erzehlung der Umſtaͤnde geſchieht, die dazu was beygetragen haben. Man muß aber die laͤcherlichen Charactere nicht zu hoch treiben. So bald der Zuſchauer glauben kan, ſo gar thoͤricht wuͤrde doch wohl kein Menſch in der Welt ſeyn: ſo bald verliert der Character ſei- nen Werth. Darinn verſtoßen es zuweilen auch die beſten Poeten; wie oben von dem Geitzhalſe des Moliere bemercket worden. Terentius iſt hierinn uͤberaus geſchickt geweſen. Alle ſeine Bilder leben: Contemplez de quel air un Pere dans Terence, Vient d’un Fils amoureux gourmander l’imprudence. De quel air cet amant écoute ſes Leçons, Et court chez ſa maitreſſe oublier ces chanſons. Ce n’eſt pas un portrait, une image ſemblable, C’eſt un amant, un Fils, un Pere veritable. Von den Affecten iſt hier ebenfalls nichts neues zu ſagen; als daß man die Tragiſchen, nehmlich die Furcht, das Schre- cken und Mitleiden zu vermeiden habe. Alle uͤbrige finden in der Comoͤdie auch ſtatt. Ein zorniger Chremes, ein verliebter Pamphilus; Ein ſtoltzer Thraſo, ein luſtiger Davus, u. d. m. ſind ſolche Gemuͤthsbewegungen, die eben kein Schrecken, auch keine Verwunderung erwecken. Der Menedemus im Terentz iſt indeſſen ſo beſchaffen, daß er gleich ein Mitleiden bey uns erwecket: doch da ſolcher Affect nur gelinde bleibt; ſo iſt es eben kein Fehler. Von der Liebe und Luſtigkeit darf man wohl keine Regeln geben: denn darauf verfallen die ge- meinſten Comoͤdienmacher von ſich ſelbſt. Sie moͤgen ſich nur in achtnehmen, daß ſie in der erſten nicht die Geſetze der Scham- P p 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/627
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 599. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/627>, abgerufen am 27.11.2024.