Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Von Tragödien und Trauerspielen.
dern. Meine obige Schul-Tragödie hub sich von dem Ur-
theile des Paris über die drey Göttinnen an, und daure-
te bis auf des Eneas Ankunft in Jtalien. Das war nun
eine Zeit, davon die zwey Helden-Gedichte Jlias und Eneis
nicht den zwantzigsten Theil einnehmen, und ich zweifle ob man
die Ungereimtheit höher hätte treiben können.

Zum dritten gehört zur Tragödie die Einigkeit des Or-
tes. Die Zuschauer bleiben auf einer Stelle sitzen, folglich
müssen auch die spielenden Personen alle auf einem Platze
bleiben, den jene übersehen können, ohne ihren Ort zu ändern.
So ist denn im Oedipus Z. E. der Schau-Platz auf dem
Vorhofe des Königlichen Thebanischen Schlosses, darinn
Oedipus wohnt. Alles, was in der gantzen Tragödie vor-
geht, geschieht vor diesem Pallaste: Nichts was man wirck-
lich sieht, trägt sich in den Zimmern zu; sondern draussen auf
dem Schloß-Platze, vor den Augen alles Volcks. Heute zu
Tage, da unsre Fürsten alles in ihren Zimmern verrichten,
fällt es also schwerer, solche Fabeln wahrscheinlich zu machen.
Daher nehmen denn die Poeten gemeiniglich alte Historien
dazu, oder sie stellen uns auch einen grossen Audientz-Saal
vor, darinn vielerley Personen auftreten können. Ja sie
helfen sich auch zuweilen mit dem Vorhange, den sie fallen
lassen und aufziehen, wenn sie zwey Zimmer zu der Fabel
nöthig haben. Man kan also leicht dencken, wie ungereimt
es ist, wenn nach dem Berichte des Cervantes die Spanischen
Trauer-Spiele den Helden in der ersten Handlung in Euro-
pa, in der andern in Africa, in der dritten in Asien, und endlich
gar in America vorstellen: oder wenn meine obgedachte
Schul-Comödie uns bald in Asien die Stadt Troja, bald die
ungestüme See darauf Eneas schiffet, bald Carthago, bald
Jtalien vorstellete, und uns also durch alle drey Theile der da-
mahls bekannten Welt, führete; ohne daß wir uns von der
Stelle rühren dorften. Es ist also in einer regelmäßigen
Tragödie nicht erlaubt, den Schau-Platz zu ändern. Wo
man ist, da muß man bleiben; und daher auch nicht in der er-
sten Handlung in Walde, in der andern in der Stadt, in der
dritten im Kriege, und in der vierten in einem Garten, oder

gar

Von Tragoͤdien und Trauerſpielen.
dern. Meine obige Schul-Tragoͤdie hub ſich von dem Ur-
theile des Paris uͤber die drey Goͤttinnen an, und daure-
te bis auf des Eneas Ankunft in Jtalien. Das war nun
eine Zeit, davon die zwey Helden-Gedichte Jlias und Eneis
nicht den zwantzigſten Theil einnehmen, und ich zweifle ob man
die Ungereimtheit hoͤher haͤtte treiben koͤnnen.

Zum dritten gehoͤrt zur Tragoͤdie die Einigkeit des Or-
tes. Die Zuſchauer bleiben auf einer Stelle ſitzen, folglich
muͤſſen auch die ſpielenden Perſonen alle auf einem Platze
bleiben, den jene uͤberſehen koͤnnen, ohne ihren Ort zu aͤndern.
So iſt denn im Oedipus Z. E. der Schau-Platz auf dem
Vorhofe des Koͤniglichen Thebaniſchen Schloſſes, darinn
Oedipus wohnt. Alles, was in der gantzen Tragoͤdie vor-
geht, geſchieht vor dieſem Pallaſte: Nichts was man wirck-
lich ſieht, traͤgt ſich in den Zimmern zu; ſondern drauſſen auf
dem Schloß-Platze, vor den Augen alles Volcks. Heute zu
Tage, da unſre Fuͤrſten alles in ihren Zimmern verrichten,
faͤllt es alſo ſchwerer, ſolche Fabeln wahrſcheinlich zu machen.
Daher nehmen denn die Poeten gemeiniglich alte Hiſtorien
dazu, oder ſie ſtellen uns auch einen groſſen Audientz-Saal
vor, darinn vielerley Perſonen auftreten koͤnnen. Ja ſie
helfen ſich auch zuweilen mit dem Vorhange, den ſie fallen
laſſen und aufziehen, wenn ſie zwey Zimmer zu der Fabel
noͤthig haben. Man kan alſo leicht dencken, wie ungereimt
es iſt, wenn nach dem Berichte des Cervantes die Spaniſchen
Trauer-Spiele den Helden in der erſten Handlung in Euro-
pa, in der andern in Africa, in der dritten in Aſien, und endlich
gar in America vorſtellen: oder wenn meine obgedachte
Schul-Comoͤdie uns bald in Aſien die Stadt Troja, bald die
ungeſtuͤme See darauf Eneas ſchiffet, bald Carthago, bald
Jtalien vorſtellete, und uns alſo durch alle drey Theile der da-
mahls bekannten Welt, fuͤhrete; ohne daß wir uns von der
Stelle ruͤhren dorften. Es iſt alſo in einer regelmaͤßigen
Tragoͤdie nicht erlaubt, den Schau-Platz zu aͤndern. Wo
man iſt, da muß man bleiben; und daher auch nicht in der er-
ſten Handlung in Walde, in der andern in der Stadt, in der
dritten im Kriege, und in der vierten in einem Garten, oder

gar
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0603" n="575"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von Trago&#x0364;dien und Trauer&#x017F;pielen.</hi></fw><lb/>
dern. Meine obige Schul-Trago&#x0364;die hub &#x017F;ich von dem Ur-<lb/>
theile des Paris u&#x0364;ber die drey Go&#x0364;ttinnen an, und daure-<lb/>
te bis auf des Eneas Ankunft in Jtalien. Das war nun<lb/>
eine Zeit, davon die zwey Helden-Gedichte Jlias und Eneis<lb/>
nicht den zwantzig&#x017F;ten Theil einnehmen, und ich zweifle ob man<lb/>
die Ungereimtheit ho&#x0364;her ha&#x0364;tte treiben ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
          <p>Zum dritten geho&#x0364;rt zur Trago&#x0364;die die Einigkeit des Or-<lb/>
tes. Die Zu&#x017F;chauer bleiben auf einer Stelle &#x017F;itzen, folglich<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en auch die &#x017F;pielenden Per&#x017F;onen alle auf einem Platze<lb/>
bleiben, den jene u&#x0364;ber&#x017F;ehen ko&#x0364;nnen, ohne ihren Ort zu a&#x0364;ndern.<lb/>
So i&#x017F;t denn im Oedipus Z. E. der Schau-Platz auf dem<lb/>
Vorhofe des Ko&#x0364;niglichen Thebani&#x017F;chen Schlo&#x017F;&#x017F;es, darinn<lb/>
Oedipus wohnt. Alles, was in der gantzen Trago&#x0364;die vor-<lb/>
geht, ge&#x017F;chieht vor die&#x017F;em Palla&#x017F;te: Nichts was man wirck-<lb/>
lich &#x017F;ieht, tra&#x0364;gt &#x017F;ich in den Zimmern zu; &#x017F;ondern drau&#x017F;&#x017F;en auf<lb/>
dem Schloß-Platze, vor den Augen alles Volcks. Heute zu<lb/>
Tage, da un&#x017F;re Fu&#x0364;r&#x017F;ten alles in ihren Zimmern verrichten,<lb/>
fa&#x0364;llt es al&#x017F;o &#x017F;chwerer, &#x017F;olche Fabeln wahr&#x017F;cheinlich zu machen.<lb/>
Daher nehmen denn die Poeten gemeiniglich alte Hi&#x017F;torien<lb/>
dazu, oder &#x017F;ie &#x017F;tellen uns auch einen gro&#x017F;&#x017F;en Audientz-Saal<lb/>
vor, darinn vielerley Per&#x017F;onen auftreten ko&#x0364;nnen. Ja &#x017F;ie<lb/>
helfen &#x017F;ich auch zuweilen mit dem Vorhange, den &#x017F;ie fallen<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en und aufziehen, wenn &#x017F;ie zwey Zimmer zu der Fabel<lb/>
no&#x0364;thig haben. Man kan al&#x017F;o leicht dencken, wie ungereimt<lb/>
es i&#x017F;t, wenn nach dem Berichte des Cervantes die Spani&#x017F;chen<lb/>
Trauer-Spiele den Helden in der er&#x017F;ten Handlung in Euro-<lb/>
pa, in der andern in Africa, in der dritten in A&#x017F;ien, und endlich<lb/>
gar in America vor&#x017F;tellen: oder wenn meine obgedachte<lb/>
Schul-Como&#x0364;die uns bald in A&#x017F;ien die Stadt Troja, bald die<lb/>
unge&#x017F;tu&#x0364;me See darauf Eneas &#x017F;chiffet, bald Carthago, bald<lb/>
Jtalien vor&#x017F;tellete, und uns al&#x017F;o durch alle drey Theile der da-<lb/>
mahls bekannten Welt, fu&#x0364;hrete; ohne daß wir uns von der<lb/>
Stelle ru&#x0364;hren dorften. Es i&#x017F;t al&#x017F;o in einer regelma&#x0364;ßigen<lb/>
Trago&#x0364;die nicht erlaubt, den Schau-Platz zu a&#x0364;ndern. Wo<lb/>
man i&#x017F;t, da muß man bleiben; und daher auch nicht in der er-<lb/>
&#x017F;ten Handlung in Walde, in der andern in der Stadt, in der<lb/>
dritten im Kriege, und in der vierten in einem Garten, oder<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gar</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[575/0603] Von Tragoͤdien und Trauerſpielen. dern. Meine obige Schul-Tragoͤdie hub ſich von dem Ur- theile des Paris uͤber die drey Goͤttinnen an, und daure- te bis auf des Eneas Ankunft in Jtalien. Das war nun eine Zeit, davon die zwey Helden-Gedichte Jlias und Eneis nicht den zwantzigſten Theil einnehmen, und ich zweifle ob man die Ungereimtheit hoͤher haͤtte treiben koͤnnen. Zum dritten gehoͤrt zur Tragoͤdie die Einigkeit des Or- tes. Die Zuſchauer bleiben auf einer Stelle ſitzen, folglich muͤſſen auch die ſpielenden Perſonen alle auf einem Platze bleiben, den jene uͤberſehen koͤnnen, ohne ihren Ort zu aͤndern. So iſt denn im Oedipus Z. E. der Schau-Platz auf dem Vorhofe des Koͤniglichen Thebaniſchen Schloſſes, darinn Oedipus wohnt. Alles, was in der gantzen Tragoͤdie vor- geht, geſchieht vor dieſem Pallaſte: Nichts was man wirck- lich ſieht, traͤgt ſich in den Zimmern zu; ſondern drauſſen auf dem Schloß-Platze, vor den Augen alles Volcks. Heute zu Tage, da unſre Fuͤrſten alles in ihren Zimmern verrichten, faͤllt es alſo ſchwerer, ſolche Fabeln wahrſcheinlich zu machen. Daher nehmen denn die Poeten gemeiniglich alte Hiſtorien dazu, oder ſie ſtellen uns auch einen groſſen Audientz-Saal vor, darinn vielerley Perſonen auftreten koͤnnen. Ja ſie helfen ſich auch zuweilen mit dem Vorhange, den ſie fallen laſſen und aufziehen, wenn ſie zwey Zimmer zu der Fabel noͤthig haben. Man kan alſo leicht dencken, wie ungereimt es iſt, wenn nach dem Berichte des Cervantes die Spaniſchen Trauer-Spiele den Helden in der erſten Handlung in Euro- pa, in der andern in Africa, in der dritten in Aſien, und endlich gar in America vorſtellen: oder wenn meine obgedachte Schul-Comoͤdie uns bald in Aſien die Stadt Troja, bald die ungeſtuͤme See darauf Eneas ſchiffet, bald Carthago, bald Jtalien vorſtellete, und uns alſo durch alle drey Theile der da- mahls bekannten Welt, fuͤhrete; ohne daß wir uns von der Stelle ruͤhren dorften. Es iſt alſo in einer regelmaͤßigen Tragoͤdie nicht erlaubt, den Schau-Platz zu aͤndern. Wo man iſt, da muß man bleiben; und daher auch nicht in der er- ſten Handlung in Walde, in der andern in der Stadt, in der dritten im Kriege, und in der vierten in einem Garten, oder gar

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/603
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 575. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/603>, abgerufen am 26.04.2024.