Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite
Von Sinn- und Schertzgedichten.
Et qu'ensuite six Vers artistement rangez,
Eussent-en deux Tercets par le sens partagez.
Sur tout de ce Poeme il bannit la Licence,
Lui meme en mesura le nombre & la Cadence,
Defendit qu' un Vers foible y paut jamais entrer,
Ni qu' un mot deja mis osoit s' y remontrer.
Du reste il l' enrichit d'une beaute supreme.

Meinestheils glaube ich, daß eher ein eigensinniger Reim-
schmidt, als Apollo, die Regeln des Sonnets ausgedacht:
weil diesem gewiß an diesem gezwungenen Schellen-Klange
nichts gelegen ist. Am wenigsten glaube ichs, was Boi-
leau hinzusetzt.

Un Sonnet sans defaut vaut seul un long Poeme.

Es ist bald so, als wenn ich sagte, ein künstlich gebautes
Kartenhaus wäre eben so viel werth, als ein grosser Pal-
last. Doch man kan hier jedem Liebhaber seinen Geschmack
lassen. Wenn Horatz einen Poeten mit einem Seiltäntzer
vergleicht, so kan man die Meister der Sonnete mit solchen
vergleichen, die mit geschlossenen Beinen tantzen. Es ist
wahr, daß dieses künstlicher ist; wenn sie gleichwohl Sprün-
ge genug machen, und keine Fehltritte thun. Aber ver-
lohnt sichs wohl der Mühe, der gesunden Vernunft solche
Fessel anzulegen, und um eines einzigen guten halber, wel-
ches von ungefehr einem Dichter geräth, viel hundert
schlechte geduldig durchzulesen?

Hieraus ist leicht zu sehen, was meine Gedancken von
den Ringelgedichten, Sechstinnen, Endreimen, oder
bouts-rimez, Buchstaben-Wechseln, Jrr-Ketten- und Bil-
derreimen, Jahrzahlen und Nahmen-Verßen, und wie sie
ferner heißen mögen, seyn werden. Dieses ist poetischer
Unrath, damit sich die Musen nichts zu schaffen machen,
und welches sie den kleinen Geistern, die auch gern auf den
Parnaß wollten, entgegen schütten; damit sie sich nur unten
am Berge verweilen, und niemahls hinan kommen mögen.
Wer die Regeln davon wissen will, darf nur Menantes
galante Poesie nachschlagen. Nach vernünftiger Ueberle-
gung aber wird man finden, daß die gantze Kunst aufs

Rei-
H h 5
Von Sinn- und Schertzgedichten.
Et qu’enſuite ſix Vers artiſtement rangez,
Euſſent-en deux Tercets par le ſens partagez.
Sur tout de ce Poeme il bannit la Licence,
Lui même en meſura le nombre & la Cadence,
Defendit qu’ un Vers foible y pût jamais entrer,
Ni qu’ un mot deja mis oſoit ſ’ y remontrer.
Du reſte il l’ enrichit d’une beauté ſupreme.

Meinestheils glaube ich, daß eher ein eigenſinniger Reim-
ſchmidt, als Apollo, die Regeln des Sonnets ausgedacht:
weil dieſem gewiß an dieſem gezwungenen Schellen-Klange
nichts gelegen iſt. Am wenigſten glaube ichs, was Boi-
leau hinzuſetzt.

Un Sonnet ſans defaut vaut ſeul un long Poeme.

Es iſt bald ſo, als wenn ich ſagte, ein kuͤnſtlich gebautes
Kartenhaus waͤre eben ſo viel werth, als ein groſſer Pal-
laſt. Doch man kan hier jedem Liebhaber ſeinen Geſchmack
laſſen. Wenn Horatz einen Poeten mit einem Seiltaͤntzer
vergleicht, ſo kan man die Meiſter der Sonnete mit ſolchen
vergleichen, die mit geſchloſſenen Beinen tantzen. Es iſt
wahr, daß dieſes kuͤnſtlicher iſt; wenn ſie gleichwohl Spruͤn-
ge genug machen, und keine Fehltritte thun. Aber ver-
lohnt ſichs wohl der Muͤhe, der geſunden Vernunft ſolche
Feſſel anzulegen, und um eines einzigen guten halber, wel-
ches von ungefehr einem Dichter geraͤth, viel hundert
ſchlechte geduldig durchzuleſen?

Hieraus iſt leicht zu ſehen, was meine Gedancken von
den Ringelgedichten, Sechſtinnen, Endreimen, oder
bouts-rimez, Buchſtaben-Wechſeln, Jrr-Ketten- und Bil-
derreimen, Jahrzahlen und Nahmen-Verßen, und wie ſie
ferner heißen moͤgen, ſeyn werden. Dieſes iſt poetiſcher
Unrath, damit ſich die Muſen nichts zu ſchaffen machen,
und welches ſie den kleinen Geiſtern, die auch gern auf den
Parnaß wollten, entgegen ſchuͤtten; damit ſie ſich nur unten
am Berge verweilen, und niemahls hinan kommen moͤgen.
Wer die Regeln davon wiſſen will, darf nur Menantes
galante Poeſie nachſchlagen. Nach vernuͤnftiger Ueberle-
gung aber wird man finden, daß die gantze Kunſt aufs

Rei-
H h 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <cit>
            <quote>
              <pb facs="#f0517" n="489"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Von Sinn- und Schertzgedichten.</hi> </fw><lb/> <hi rendition="#aq">Et qu&#x2019;en&#x017F;uite &#x017F;ix Vers arti&#x017F;tement rangez,<lb/>
Eu&#x017F;&#x017F;ent-en deux Tercets par le &#x017F;ens partagez.<lb/>
Sur tout de ce Poeme il bannit la Licence,<lb/>
Lui même en me&#x017F;ura le nombre &amp; la Cadence,<lb/>
Defendit qu&#x2019; un Vers foible y pût jamais entrer,<lb/>
Ni qu&#x2019; un mot deja mis o&#x017F;oit &#x017F;&#x2019; y remontrer.<lb/>
Du re&#x017F;te il l&#x2019; enrichit d&#x2019;une beauté &#x017F;upreme.</hi> </quote>
          </cit><lb/>
          <p>Meinestheils glaube ich, daß eher ein eigen&#x017F;inniger Reim-<lb/>
&#x017F;chmidt, als Apollo, die Regeln des Sonnets ausgedacht:<lb/>
weil die&#x017F;em gewiß an die&#x017F;em gezwungenen Schellen-Klange<lb/>
nichts gelegen i&#x017F;t. Am wenig&#x017F;ten glaube ichs, was Boi-<lb/>
leau hinzu&#x017F;etzt.</p><lb/>
          <cit>
            <quote> <hi rendition="#aq">Un Sonnet &#x017F;ans defaut vaut &#x017F;eul un long Poeme.</hi> </quote>
          </cit><lb/>
          <p>Es i&#x017F;t bald &#x017F;o, als wenn ich &#x017F;agte, ein ku&#x0364;n&#x017F;tlich gebautes<lb/>
Kartenhaus wa&#x0364;re eben &#x017F;o viel werth, als ein gro&#x017F;&#x017F;er Pal-<lb/>
la&#x017F;t. Doch man kan hier jedem Liebhaber &#x017F;einen Ge&#x017F;chmack<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en. Wenn Horatz einen Poeten mit einem Seilta&#x0364;ntzer<lb/>
vergleicht, &#x017F;o kan man die Mei&#x017F;ter der Sonnete mit &#x017F;olchen<lb/>
vergleichen, die mit ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Beinen tantzen. Es i&#x017F;t<lb/>
wahr, daß die&#x017F;es ku&#x0364;n&#x017F;tlicher i&#x017F;t; wenn &#x017F;ie gleichwohl Spru&#x0364;n-<lb/>
ge genug machen, und keine Fehltritte thun. Aber ver-<lb/>
lohnt &#x017F;ichs wohl der Mu&#x0364;he, der ge&#x017F;unden Vernunft &#x017F;olche<lb/>
Fe&#x017F;&#x017F;el anzulegen, und um eines einzigen guten halber, wel-<lb/>
ches von ungefehr einem Dichter gera&#x0364;th, viel hundert<lb/>
&#x017F;chlechte geduldig durchzule&#x017F;en?</p><lb/>
          <p>Hieraus i&#x017F;t leicht zu &#x017F;ehen, was meine Gedancken von<lb/>
den Ringelgedichten, Sech&#x017F;tinnen, Endreimen, oder<lb/><hi rendition="#aq">bouts-rimez,</hi> Buch&#x017F;taben-Wech&#x017F;eln, Jrr-Ketten- und Bil-<lb/>
derreimen, Jahrzahlen und Nahmen-Verßen, und wie &#x017F;ie<lb/>
ferner heißen mo&#x0364;gen, &#x017F;eyn werden. Die&#x017F;es i&#x017F;t poeti&#x017F;cher<lb/>
Unrath, damit &#x017F;ich die Mu&#x017F;en nichts zu &#x017F;chaffen machen,<lb/>
und welches &#x017F;ie den kleinen Gei&#x017F;tern, die auch gern auf den<lb/>
Parnaß wollten, entgegen &#x017F;chu&#x0364;tten; damit &#x017F;ie &#x017F;ich nur unten<lb/>
am Berge verweilen, und niemahls hinan kommen mo&#x0364;gen.<lb/>
Wer die Regeln davon wi&#x017F;&#x017F;en will, darf nur Menantes<lb/>
galante Poe&#x017F;ie nach&#x017F;chlagen. Nach vernu&#x0364;nftiger Ueberle-<lb/>
gung aber wird man finden, daß die gantze Kun&#x017F;t aufs<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H h 5</fw><fw place="bottom" type="catch">Rei-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[489/0517] Von Sinn- und Schertzgedichten. Et qu’enſuite ſix Vers artiſtement rangez, Euſſent-en deux Tercets par le ſens partagez. Sur tout de ce Poeme il bannit la Licence, Lui même en meſura le nombre & la Cadence, Defendit qu’ un Vers foible y pût jamais entrer, Ni qu’ un mot deja mis oſoit ſ’ y remontrer. Du reſte il l’ enrichit d’une beauté ſupreme. Meinestheils glaube ich, daß eher ein eigenſinniger Reim- ſchmidt, als Apollo, die Regeln des Sonnets ausgedacht: weil dieſem gewiß an dieſem gezwungenen Schellen-Klange nichts gelegen iſt. Am wenigſten glaube ichs, was Boi- leau hinzuſetzt. Un Sonnet ſans defaut vaut ſeul un long Poeme. Es iſt bald ſo, als wenn ich ſagte, ein kuͤnſtlich gebautes Kartenhaus waͤre eben ſo viel werth, als ein groſſer Pal- laſt. Doch man kan hier jedem Liebhaber ſeinen Geſchmack laſſen. Wenn Horatz einen Poeten mit einem Seiltaͤntzer vergleicht, ſo kan man die Meiſter der Sonnete mit ſolchen vergleichen, die mit geſchloſſenen Beinen tantzen. Es iſt wahr, daß dieſes kuͤnſtlicher iſt; wenn ſie gleichwohl Spruͤn- ge genug machen, und keine Fehltritte thun. Aber ver- lohnt ſichs wohl der Muͤhe, der geſunden Vernunft ſolche Feſſel anzulegen, und um eines einzigen guten halber, wel- ches von ungefehr einem Dichter geraͤth, viel hundert ſchlechte geduldig durchzuleſen? Hieraus iſt leicht zu ſehen, was meine Gedancken von den Ringelgedichten, Sechſtinnen, Endreimen, oder bouts-rimez, Buchſtaben-Wechſeln, Jrr-Ketten- und Bil- derreimen, Jahrzahlen und Nahmen-Verßen, und wie ſie ferner heißen moͤgen, ſeyn werden. Dieſes iſt poetiſcher Unrath, damit ſich die Muſen nichts zu ſchaffen machen, und welches ſie den kleinen Geiſtern, die auch gern auf den Parnaß wollten, entgegen ſchuͤtten; damit ſie ſich nur unten am Berge verweilen, und niemahls hinan kommen moͤgen. Wer die Regeln davon wiſſen will, darf nur Menantes galante Poeſie nachſchlagen. Nach vernuͤnftiger Ueberle- gung aber wird man finden, daß die gantze Kunſt aufs Rei- H h 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/517
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/517>, abgerufen am 29.06.2024.