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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils VII Capitel
vierzehn Zeilen bestehen, die alle von einer Länge sind, und in
vier Abschnitte dem Verstande nach abgetheilet seyn. Zu-
erst müssen vier und vier, hernach aber drey und drey Zeilen
zusammen einen Sinn haben. Jn den beyden ersten
Stücken müssen vier männliche und vier weibliche Rei-
me von einerley Art vermischt werden. Der Schluß
davon muß auch was sonderbares in sich fassen. Jch will
ein Exempel aus unserm Flemming hersetzen, von dem wir
gantzer vier Bücher Sonnette aufzuweisen haben. Es
steht p. 651. seiner Gedichte, und ist an ein Frauenzimmer,
die er Svavia nennt, gerichtet:

Sonnet.
Jch that es, Svavia, ich wartete nach dir,
Die gantze halbe Nacht, so wie du mir versprochen.
Wie kams denn, daß du mir die Treue so gebrochen?
Jmmittelst starb ich fast für schmertzlicher Begier.
Zuletzte ließ ich dir noch einen Kuß allhier,
Für dem hast du dich auch aus Uebermuth verkrochen,
Wie sehr er dich gesucht bey einer halben Wochen.
Jetzt kommt er wieder matt und ohne Trost zu mir.
Die Ursach, hör ich ietzt; dir sey zu Ohren kommen,
Als hätt ich Amnien in meine Gunst genommen.
Mein Licht! nein, glaub es nicht. Es leugt sich ietzo viel.
Wie offt wird mir gesagt, du meynest mehr als einen?
Jch höre was ich muß, und glaube was ich will,
Du wirst es nimmermehr, ja nicht so böse meynen.

So wie dieses Muster aussieht, so müssen sie alle aussehen;
ausser daß die Zeilen auch aus fünf- ja vierfüßigen Verßen
bestehen können, und daß man auch eben so wohl mit einem
weiblichen Reime anfangen, alsdann aber überall die Stel-
len der übrigen Reime, auf die Art vertauschen müsse. Boi-
leau dichtet dieser vielen Schwierigkeiten halber, Apollo
habe diese Regeln des Sonnets den Dichtern zur Strafe
ausgesonnen.

On dit a ce propos qu'un jour ce Dieu bizarre
Voulant pousser a bout tous les Rimars Francois,
Inventa du Sonnet les rigoureuses Loix;
Voulaut qu'en deux Quatrains, de mesure pareille,
La Rime avec deux sons frappat huitfois l'oreille,

Et

Des II Theils VII Capitel
vierzehn Zeilen beſtehen, die alle von einer Laͤnge ſind, und in
vier Abſchnitte dem Verſtande nach abgetheilet ſeyn. Zu-
erſt muͤſſen vier und vier, hernach aber drey und drey Zeilen
zuſammen einen Sinn haben. Jn den beyden erſten
Stuͤcken muͤſſen vier maͤnnliche und vier weibliche Rei-
me von einerley Art vermiſcht werden. Der Schluß
davon muß auch was ſonderbares in ſich faſſen. Jch will
ein Exempel aus unſerm Flemming herſetzen, von dem wir
gantzer vier Buͤcher Sonnette aufzuweiſen haben. Es
ſteht p. 651. ſeiner Gedichte, und iſt an ein Frauenzimmer,
die er Svavia nennt, gerichtet:

Sonnet.
Jch that es, Svavia, ich wartete nach dir,
Die gantze halbe Nacht, ſo wie du mir verſprochen.
Wie kams denn, daß du mir die Treue ſo gebrochen?
Jmmittelſt ſtarb ich faſt fuͤr ſchmertzlicher Begier.
Zuletzte ließ ich dir noch einen Kuß allhier,
Fuͤr dem haſt du dich auch aus Uebermuth verkrochen,
Wie ſehr er dich geſucht bey einer halben Wochen.
Jetzt kommt er wieder matt und ohne Troſt zu mir.
Die Urſach, hoͤr ich ietzt; dir ſey zu Ohren kommen,
Als haͤtt ich Amnien in meine Gunſt genommen.
Mein Licht! nein, glaub es nicht. Es leugt ſich ietzo viel.
Wie offt wird mir geſagt, du meyneſt mehr als einen?
Jch hoͤre was ich muß, und glaube was ich will,
Du wirſt es nimmermehr, ja nicht ſo boͤſe meynen.

So wie dieſes Muſter ausſieht, ſo muͤſſen ſie alle ausſehen;
auſſer daß die Zeilen auch aus fuͤnf- ja vierfuͤßigen Verßen
beſtehen koͤnnen, und daß man auch eben ſo wohl mit einem
weiblichen Reime anfangen, alsdann aber uͤberall die Stel-
len der uͤbrigen Reime, auf die Art vertauſchen muͤſſe. Boi-
leau dichtet dieſer vielen Schwierigkeiten halber, Apollo
habe dieſe Regeln des Sonnets den Dichtern zur Strafe
ausgeſonnen.

On dit à ce propos qu’un jour ce Dieu bizarre
Voulant pouſſer à bout tous les Rimars François,
Inventa du Sonnet les rigoureuſes Loix;
Voulût qu’en deux Quatrains, de meſure pareille,
La Rime avec deux ſons frappât huitfois l’oreille,

Et
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[488/0516] Des II Theils VII Capitel vierzehn Zeilen beſtehen, die alle von einer Laͤnge ſind, und in vier Abſchnitte dem Verſtande nach abgetheilet ſeyn. Zu- erſt muͤſſen vier und vier, hernach aber drey und drey Zeilen zuſammen einen Sinn haben. Jn den beyden erſten Stuͤcken muͤſſen vier maͤnnliche und vier weibliche Rei- me von einerley Art vermiſcht werden. Der Schluß davon muß auch was ſonderbares in ſich faſſen. Jch will ein Exempel aus unſerm Flemming herſetzen, von dem wir gantzer vier Buͤcher Sonnette aufzuweiſen haben. Es ſteht p. 651. ſeiner Gedichte, und iſt an ein Frauenzimmer, die er Svavia nennt, gerichtet: Sonnet. Jch that es, Svavia, ich wartete nach dir, Die gantze halbe Nacht, ſo wie du mir verſprochen. Wie kams denn, daß du mir die Treue ſo gebrochen? Jmmittelſt ſtarb ich faſt fuͤr ſchmertzlicher Begier. Zuletzte ließ ich dir noch einen Kuß allhier, Fuͤr dem haſt du dich auch aus Uebermuth verkrochen, Wie ſehr er dich geſucht bey einer halben Wochen. Jetzt kommt er wieder matt und ohne Troſt zu mir. Die Urſach, hoͤr ich ietzt; dir ſey zu Ohren kommen, Als haͤtt ich Amnien in meine Gunſt genommen. Mein Licht! nein, glaub es nicht. Es leugt ſich ietzo viel. Wie offt wird mir geſagt, du meyneſt mehr als einen? Jch hoͤre was ich muß, und glaube was ich will, Du wirſt es nimmermehr, ja nicht ſo boͤſe meynen. So wie dieſes Muſter ausſieht, ſo muͤſſen ſie alle ausſehen; auſſer daß die Zeilen auch aus fuͤnf- ja vierfuͤßigen Verßen beſtehen koͤnnen, und daß man auch eben ſo wohl mit einem weiblichen Reime anfangen, alsdann aber uͤberall die Stel- len der uͤbrigen Reime, auf die Art vertauſchen muͤſſe. Boi- leau dichtet dieſer vielen Schwierigkeiten halber, Apollo habe dieſe Regeln des Sonnets den Dichtern zur Strafe ausgeſonnen. On dit à ce propos qu’un jour ce Dieu bizarre Voulant pouſſer à bout tous les Rimars François, Inventa du Sonnet les rigoureuſes Loix; Voulût qu’en deux Quatrains, de meſure pareille, La Rime avec deux ſons frappât huitfois l’oreille, Et

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/516>, abgerufen am 26.11.2024.