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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils II Capitel
Orpheus! ach wie wunderschön,
Ach wie schön ist dirs gelungen!
Durch das Lied so du gesungen,
Durch dein kühnes Unterstehn,
Jst der Höllen Grimm bezwungen.
Pluto selber ist besiegt.
Wie vergnügt,
Kanst du nun zurücke gehn!
Orpheus, ach wie wunderschön,
Ach wie schön ist dirs gelungen!
Er tritt den Rückweg freudig an;
Euridice, die auf sein Bitten,
Die Unterwelt verlassen kan,
Folgt willig seinen Schritten.
Allein wie quält ihn die Begier!
Sein Hertze brennt nach ihr,
Er wünschet sie zu sehen:
Doch darf und soll er keinen Blick
O marterndes Geschick!
Nach ihr zurücke drehen.
Aus Furcht, sein Liebstes von der Erden
Möcht abermahl dadurch verschertzet werden.
O grimmiges Schicksal wie quälst du die Hertzen
Der Zärtlich-verliebten mit folternder Pein!
Deine Begnadigung selber wirckt Schmertzen,
Wenn auch die Blicke
Lechzender Seelen so eingeschränckt seyn,
Wenn, o grimmiges Geschicke
Auch das Auge mit Verdruß,
Was es liebt, nicht sehen muß!
Er zwingt, er martert sich,
Der Rückweg daurt ihm gar zu lange,
Der schnelle Schritt verdoppelt sich im Gange;
Sein Vorsatz bleibt noch unveränderlich.
Er hemmet seiner Sehnsucht Zügel,
Und wünscht den Schenckeln Flügel;
Um desto eh mit reger Brust,
Euridicen, der treuen Augen Lust
Zu sehen und zu küssen.
Und seht, der finstre Gang scheint sich zu schliessen,
Ein
Des II Theils II Capitel
Orpheus! ach wie wunderſchoͤn,
Ach wie ſchoͤn iſt dirs gelungen!
Durch das Lied ſo du geſungen,
Durch dein kuͤhnes Unterſtehn,
Jſt der Hoͤllen Grimm bezwungen.
Pluto ſelber iſt beſiegt.
Wie vergnuͤgt,
Kanſt du nun zuruͤcke gehn!
Orpheus, ach wie wunderſchoͤn,
Ach wie ſchoͤn iſt dirs gelungen!
Er tritt den Ruͤckweg freudig an;
Euridice, die auf ſein Bitten,
Die Unterwelt verlaſſen kan,
Folgt willig ſeinen Schritten.
Allein wie quaͤlt ihn die Begier!
Sein Hertze brennt nach ihr,
Er wuͤnſchet ſie zu ſehen:
Doch darf und ſoll er keinen Blick
O marterndes Geſchick!
Nach ihr zuruͤcke drehen.
Aus Furcht, ſein Liebſtes von der Erden
Moͤcht abermahl dadurch verſchertzet werden.
O grimmiges Schickſal wie quaͤlſt du die Hertzen
Der Zaͤrtlich-verliebten mit folternder Pein!
Deine Begnadigung ſelber wirckt Schmertzen,
Wenn auch die Blicke
Lechzender Seelen ſo eingeſchraͤnckt ſeyn,
Wenn, o grimmiges Geſchicke
Auch das Auge mit Verdruß,
Was es liebt, nicht ſehen muß!
Er zwingt, er martert ſich,
Der Ruͤckweg daurt ihm gar zu lange,
Der ſchnelle Schritt verdoppelt ſich im Gange;
Sein Vorſatz bleibt noch unveraͤnderlich.
Er hemmet ſeiner Sehnſucht Zuͤgel,
Und wuͤnſcht den Schenckeln Fluͤgel;
Um deſto eh mit reger Bruſt,
Euridicen, der treuen Augen Luſt
Zu ſehen und zu kuͤſſen.
Und ſeht, der finſtre Gang ſcheint ſich zu ſchlieſſen,
Ein
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[378/0406] Des II Theils II Capitel Orpheus! ach wie wunderſchoͤn, Ach wie ſchoͤn iſt dirs gelungen! Durch das Lied ſo du geſungen, Durch dein kuͤhnes Unterſtehn, Jſt der Hoͤllen Grimm bezwungen. Pluto ſelber iſt beſiegt. Wie vergnuͤgt, Kanſt du nun zuruͤcke gehn! Orpheus, ach wie wunderſchoͤn, Ach wie ſchoͤn iſt dirs gelungen! Er tritt den Ruͤckweg freudig an; Euridice, die auf ſein Bitten, Die Unterwelt verlaſſen kan, Folgt willig ſeinen Schritten. Allein wie quaͤlt ihn die Begier! Sein Hertze brennt nach ihr, Er wuͤnſchet ſie zu ſehen: Doch darf und ſoll er keinen Blick O marterndes Geſchick! Nach ihr zuruͤcke drehen. Aus Furcht, ſein Liebſtes von der Erden Moͤcht abermahl dadurch verſchertzet werden. O grimmiges Schickſal wie quaͤlſt du die Hertzen Der Zaͤrtlich-verliebten mit folternder Pein! Deine Begnadigung ſelber wirckt Schmertzen, Wenn auch die Blicke Lechzender Seelen ſo eingeſchraͤnckt ſeyn, Wenn, o grimmiges Geſchicke Auch das Auge mit Verdruß, Was es liebt, nicht ſehen muß! Er zwingt, er martert ſich, Der Ruͤckweg daurt ihm gar zu lange, Der ſchnelle Schritt verdoppelt ſich im Gange; Sein Vorſatz bleibt noch unveraͤnderlich. Er hemmet ſeiner Sehnſucht Zuͤgel, Und wuͤnſcht den Schenckeln Fluͤgel; Um deſto eh mit reger Bruſt, Euridicen, der treuen Augen Luſt Zu ſehen und zu kuͤſſen. Und ſeht, der finſtre Gang ſcheint ſich zu ſchlieſſen, Ein

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/406>, abgerufen am 27.11.2024.