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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Cantaten.
Ach! soll ich dich so zeitig missen?
Geliebte Seele! scheidest du?
Jhr frommen Schatten, hört mir zu!
Mein halbes Hertz ist mir entrissen,
Die allertreuste Zärtlichkeit
Gebiert mir itzt das herbste Leid.
Euridice! mein Licht! Euridice!
Erbarme dich, o Fürst der Höllen!
Erbarme dich! und laß mich ein.
Verschleuß doch nicht, zu meiner Pein,
Die Pforten an Avernus Schwellen,
Du selber hast ja sonst geliebt;
Drum weist du schon, was mich betrübt.
Euridice! mein Hertz! Euridice.
Gedenck einmahl an Proserpinen,
Erinnre dich der süßen Lust,
Wenn dir an ihrer Götter-Brust
Dein Reich ein Himmelreich geschienen.
Du raubtest sie der Oberwelt:
Warum ist mirs nicht frey gestellt?
Euridice! mein Schatz! Euridice.
Dieß Lied durchdrang der finstern Hölen Düffte.
Der grimme Wächter dunckler Klüffte
Vernahms von weitem kaum,
So gab er schon dem Wunder-Klange Raum,
Die Wuth der drey beschämten Zungen,
War durch des Dichters Kunst bezwungen.
Der Tobende vergaß das Bellen,
Er streckte sich gemächlich an die Schwellen,
Er schlief allmählich ein,
Und Orpheus drang behertzt hinein.
Der Höllen-Gott war selbst gerührt.
So bald sein Ohr des Dichters Lied gespürt,
Sein Flehen war erhöret:
Nimm hin, so ward der Schluß verfaßt,
Nimm hin das Liebste, so du hast.
Euridice soll noch auf Erden,
So wie vorh in, von dir umarmet werden;
Und das soll gleich geschehn.
Da ist sie! führe sie zurücke,
Doch hüte dich, und laß die Blicke,
Nicht eh nach ihrer Schönheit sehn;
Als bis die Oberwelt,
Euch wiederum in ihren Gräntzen hält.
Arie.
A a 5
Von Cantaten.
Ach! ſoll ich dich ſo zeitig miſſen?
Geliebte Seele! ſcheideſt du?
Jhr frommen Schatten, hoͤrt mir zu!
Mein halbes Hertz iſt mir entriſſen,
Die allertreuſte Zaͤrtlichkeit
Gebiert mir itzt das herbſte Leid.
Euridice! mein Licht! Euridice!
Erbarme dich, o Fuͤrſt der Hoͤllen!
Erbarme dich! und laß mich ein.
Verſchleuß doch nicht, zu meiner Pein,
Die Pforten an Avernus Schwellen,
Du ſelber haſt ja ſonſt geliebt;
Drum weiſt du ſchon, was mich betruͤbt.
Euridice! mein Hertz! Euridice.
Gedenck einmahl an Proſerpinen,
Erinnre dich der ſuͤßen Luſt,
Wenn dir an ihrer Goͤtter-Bruſt
Dein Reich ein Himmelreich geſchienen.
Du raubteſt ſie der Oberwelt:
Warum iſt mirs nicht frey geſtellt?
Euridice! mein Schatz! Euridice.
Dieß Lied durchdrang der finſtern Hoͤlen Duͤffte.
Der grimme Waͤchter dunckler Kluͤffte
Vernahms von weitem kaum,
So gab er ſchon dem Wunder-Klange Raum,
Die Wuth der drey beſchaͤmten Zungen,
War durch des Dichters Kunſt bezwungen.
Der Tobende vergaß das Bellen,
Er ſtreckte ſich gemaͤchlich an die Schwellen,
Er ſchlief allmaͤhlich ein,
Und Orpheus drang behertzt hinein.
Der Hoͤllen-Gott war ſelbſt geruͤhrt.
So bald ſein Ohr des Dichters Lied geſpuͤrt,
Sein Flehen war erhoͤret:
Nimm hin, ſo ward der Schluß verfaßt,
Nimm hin das Liebſte, ſo du haſt.
Euridice ſoll noch auf Erden,
So wie vorh in, von dir umarmet werden;
Und das ſoll gleich geſchehn.
Da iſt ſie! fuͤhre ſie zuruͤcke,
Doch huͤte dich, und laß die Blicke,
Nicht eh nach ihrer Schoͤnheit ſehn;
Als bis die Oberwelt,
Euch wiederum in ihren Graͤntzen haͤlt.
Arie.
A a 5
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[377/0405] Von Cantaten. Ach! ſoll ich dich ſo zeitig miſſen? Geliebte Seele! ſcheideſt du? Jhr frommen Schatten, hoͤrt mir zu! Mein halbes Hertz iſt mir entriſſen, Die allertreuſte Zaͤrtlichkeit Gebiert mir itzt das herbſte Leid. Euridice! mein Licht! Euridice! Erbarme dich, o Fuͤrſt der Hoͤllen! Erbarme dich! und laß mich ein. Verſchleuß doch nicht, zu meiner Pein, Die Pforten an Avernus Schwellen, Du ſelber haſt ja ſonſt geliebt; Drum weiſt du ſchon, was mich betruͤbt. Euridice! mein Hertz! Euridice. Gedenck einmahl an Proſerpinen, Erinnre dich der ſuͤßen Luſt, Wenn dir an ihrer Goͤtter-Bruſt Dein Reich ein Himmelreich geſchienen. Du raubteſt ſie der Oberwelt: Warum iſt mirs nicht frey geſtellt? Euridice! mein Schatz! Euridice. Dieß Lied durchdrang der finſtern Hoͤlen Duͤffte. Der grimme Waͤchter dunckler Kluͤffte Vernahms von weitem kaum, So gab er ſchon dem Wunder-Klange Raum, Die Wuth der drey beſchaͤmten Zungen, War durch des Dichters Kunſt bezwungen. Der Tobende vergaß das Bellen, Er ſtreckte ſich gemaͤchlich an die Schwellen, Er ſchlief allmaͤhlich ein, Und Orpheus drang behertzt hinein. Der Hoͤllen-Gott war ſelbſt geruͤhrt. So bald ſein Ohr des Dichters Lied geſpuͤrt, Sein Flehen war erhoͤret: Nimm hin, ſo ward der Schluß verfaßt, Nimm hin das Liebſte, ſo du haſt. Euridice ſoll noch auf Erden, So wie vorh in, von dir umarmet werden; Und das ſoll gleich geſchehn. Da iſt ſie! fuͤhre ſie zuruͤcke, Doch huͤte dich, und laß die Blicke, Nicht eh nach ihrer Schoͤnheit ſehn; Als bis die Oberwelt, Euch wiederum in ihren Graͤntzen haͤlt. Arie. A a 5

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/405>, abgerufen am 23.11.2024.