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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das X. Capitel
Sey gegrüßt du Fürst der Zeiten,
Du des Jahrs Apell, o May! etc.

Jn einer andern Ode, wendet er sich an den Mond und A-
bendstern:

Sieh sie an, die Weberin,
Fromme Cynthie, und höre,
Du auch züchtige Cythere,
Unsrer Nächte Heroldin!

Anderwerts redet er die bunten Matten, die Thäler, Ger-
manien, die Liebe, die Musen u. s. w. an. Und was ist ge-
wöhnlicher, als daß die Poeten gar sich selbst, oder wie sie
reden, ihren Geist und Sinn anzureden pflegen. Z. E. Ca-
nitz in dem obgedachten Gedichte von der Poesie.

Auf, säume nicht, mein Sinn! ein gutes Werck zu wagen.

Und abermahl:

Verdammte Poesie! mein Sinn, laß dich bedeuten,
Eh ich dir Niesewurtz darf lassen zubereiten. etc.

Und weil die Musen in der That nichts anders als den poe-
tischen Trieb des Dichters bedeuten, so gehört auch folgende
Art der Anreden hieher, wenn z. E. Heräus schreibt:

Still, Musen! still, wohin? Jhr fanget an zu rasen.
Jhr wißt, daß ich ein Blatt und nicht ein Buch bestellt.

Zum XXIVsten kommt die Wiederkehr (Epistrophe),
da man die Schluß-Worte des einen Satzes etlichemahl
am Ende andrer Sätze wiederholet. Dahin gehören die
Oden, wo die letzten Zeilen allezeit bey jeder Strophe wie-
der vorkommen, doch so, daß sie sich auch dazu schicken. Z. E.
Flemming hat p. 371. im IIIten Buch seiner Oden die 8te
so gemacht, daß jede Strophe sich schliesset:

Pflücket Blumen, windet Kräntze,
Führet liebe Lobe-Täntze.

Eben so hat Opitz die IIIte von seinen Oden bey jeder Stro-
phe folgendermaßen beschlossen:

Eine jeder lobe seinen Sinn,
Jch lobe meine Schäferin.

Es
Das X. Capitel
Sey gegruͤßt du Fuͤrſt der Zeiten,
Du des Jahrs Apell, o May! ꝛc.

Jn einer andern Ode, wendet er ſich an den Mond und A-
bendſtern:

Sieh ſie an, die Weberin,
Fromme Cynthie, und hoͤre,
Du auch zuͤchtige Cythere,
Unſrer Naͤchte Heroldin!

Anderwerts redet er die bunten Matten, die Thaͤler, Ger-
manien, die Liebe, die Muſen u. ſ. w. an. Und was iſt ge-
woͤhnlicher, als daß die Poeten gar ſich ſelbſt, oder wie ſie
reden, ihren Geiſt und Sinn anzureden pflegen. Z. E. Ca-
nitz in dem obgedachten Gedichte von der Poeſie.

Auf, ſaͤume nicht, mein Sinn! ein gutes Werck zu wagen.

Und abermahl:

Verdammte Poeſie! mein Sinn, laß dich bedeuten,
Eh ich dir Nieſewurtz darf laſſen zubereiten. ꝛc.

Und weil die Muſen in der That nichts anders als den poe-
tiſchen Trieb des Dichters bedeuten, ſo gehoͤrt auch folgende
Art der Anreden hieher, wenn z. E. Heraͤus ſchreibt:

Still, Muſen! ſtill, wohin? Jhr fanget an zu raſen.
Jhr wißt, daß ich ein Blatt und nicht ein Buch beſtellt.

Zum XXIVſten kommt die Wiederkehr (Epiſtrophe),
da man die Schluß-Worte des einen Satzes etlichemahl
am Ende andrer Saͤtze wiederholet. Dahin gehoͤren die
Oden, wo die letzten Zeilen allezeit bey jeder Strophe wie-
der vorkommen, doch ſo, daß ſie ſich auch dazu ſchicken. Z. E.
Flemming hat p. 371. im IIIten Buch ſeiner Oden die 8te
ſo gemacht, daß jede Strophe ſich ſchlieſſet:

Pfluͤcket Blumen, windet Kraͤntze,
Fuͤhret liebe Lobe-Taͤntze.

Eben ſo hat Opitz die IIIte von ſeinen Oden bey jeder Stro-
phe folgendermaßen beſchloſſen:

Eine jeder lobe ſeinen Sinn,
Jch lobe meine Schaͤferin.

Es
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[278/0306] Das X. Capitel Sey gegruͤßt du Fuͤrſt der Zeiten, Du des Jahrs Apell, o May! ꝛc. Jn einer andern Ode, wendet er ſich an den Mond und A- bendſtern: Sieh ſie an, die Weberin, Fromme Cynthie, und hoͤre, Du auch zuͤchtige Cythere, Unſrer Naͤchte Heroldin! Anderwerts redet er die bunten Matten, die Thaͤler, Ger- manien, die Liebe, die Muſen u. ſ. w. an. Und was iſt ge- woͤhnlicher, als daß die Poeten gar ſich ſelbſt, oder wie ſie reden, ihren Geiſt und Sinn anzureden pflegen. Z. E. Ca- nitz in dem obgedachten Gedichte von der Poeſie. Auf, ſaͤume nicht, mein Sinn! ein gutes Werck zu wagen. Und abermahl: Verdammte Poeſie! mein Sinn, laß dich bedeuten, Eh ich dir Nieſewurtz darf laſſen zubereiten. ꝛc. Und weil die Muſen in der That nichts anders als den poe- tiſchen Trieb des Dichters bedeuten, ſo gehoͤrt auch folgende Art der Anreden hieher, wenn z. E. Heraͤus ſchreibt: Still, Muſen! ſtill, wohin? Jhr fanget an zu raſen. Jhr wißt, daß ich ein Blatt und nicht ein Buch beſtellt. Zum XXIVſten kommt die Wiederkehr (Epiſtrophe), da man die Schluß-Worte des einen Satzes etlichemahl am Ende andrer Saͤtze wiederholet. Dahin gehoͤren die Oden, wo die letzten Zeilen allezeit bey jeder Strophe wie- der vorkommen, doch ſo, daß ſie ſich auch dazu ſchicken. Z. E. Flemming hat p. 371. im IIIten Buch ſeiner Oden die 8te ſo gemacht, daß jede Strophe ſich ſchlieſſet: Pfluͤcket Blumen, windet Kraͤntze, Fuͤhret liebe Lobe-Taͤntze. Eben ſo hat Opitz die IIIte von ſeinen Oden bey jeder Stro- phe folgendermaßen beſchloſſen: Eine jeder lobe ſeinen Sinn, Jch lobe meine Schaͤferin. Es

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/306>, abgerufen am 24.11.2024.