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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von den Figuren in der Poesie.
Ein Cörper bleibet doch, obgleich des Schattens Schein
Sich grösser macht als er. Die Zeit soll Richter seyn.

Hier ist der Schluß durch die Kürtze so schön geworden; Er
kan aber wiederum auch bey der weitläuftigern Schreibart
doch von gutem Nachdrucke fallen, wenn er desto nachdenck-
licher und sinnreicher ist. Amthor beschreibt die Liebe alter
Männer, und schließt die Strophe so: p. 165.

Viel seltner sieht es aus, wenn sich ein greiser Bart,
Wie gleichwohl offt geschieht, an Mädgen-Fleisch verbrennet:
Da muß die Brille weg, der Waden-Strumpf herbey,
Und daß der Runtzeln Grund womit bedecket sey,
Der eingesperrte Schatz aus allen Kasten springen,
O Thorheit! sich durch Geld zur Knechtschafft einzudringen.

Es folgt XXII. die Frage, (Interrogatio) die sich von
selbst versteht, und so zu reden die gemeinste, aber auch eine
von den kräfftigsten Figuren ist. Zuweilen ist sie nur ein-
fach, und dann hat sie so viel Nachdruck nicht, als wenn
sie vielmahl hinter einander gesetzt wird. Die grosse Weit-
läuftigkeit macht eine Frage auch nur matt; je kürtzer aber
ihre Theile oder Glieder werden, und je hurtiger sie auf
einander folgen, desto schärfer dringt sie ein; ja stürmt fast
auf die Gemüther loß. Z. E. Canitz in seiner Satire von
der Poesie:

Was fehlt? was sicht dich an? Was ists? Was macht dich toll?
Ein Wort. Was für ein Wort? das hinten reimen soll.

Eben auf die Art fängt Opitz sein Schreiben an Nüßlern
mit etlichen Fragen hinter einander an: p. 177. der Poet. W.

Jst das der freye Sinn? Sind dieses die Gedancken,
Der unbewegte Muth, so vormahls ohne Schrancken,
Voll himmlischer Begier, den Weg der Tugend gieng?
Jst das des Phöbus Sohn, dem gantz sein Hertze hieng,
Das Schloß der Ewigkeit in kurtzem zu ersteigen?

Etwas ungewöhnlicher ist XXIII. die Anrede (Apostrophe)
an Leblose, Todte, Abwesende, aber auch wohl an gegenwär-
tige Leute und Dinge, welche mit einer grossen Hefftigkeit
geschieht und nur in hitzigen Bewegungen des Gemüthes statt
findet. Z. E. Flemming p. 363. redet den Maymonat an:

Sey
S 3
Von den Figuren in der Poeſie.
Ein Coͤrper bleibet doch, obgleich des Schattens Schein
Sich groͤſſer macht als er. Die Zeit ſoll Richter ſeyn.

Hier iſt der Schluß durch die Kuͤrtze ſo ſchoͤn geworden; Er
kan aber wiederum auch bey der weitlaͤuftigern Schreibart
doch von gutem Nachdrucke fallen, wenn er deſto nachdenck-
licher und ſinnreicher iſt. Amthor beſchreibt die Liebe alter
Maͤnner, und ſchließt die Strophe ſo: p. 165.

Viel ſeltner ſieht es aus, wenn ſich ein greiſer Bart,
Wie gleichwohl offt geſchieht, an Maͤdgen-Fleiſch verbrennet:
Da muß die Brille weg, der Waden-Strumpf herbey,
Und daß der Runtzeln Grund womit bedecket ſey,
Der eingeſperrte Schatz aus allen Kaſten ſpringen,
O Thorheit! ſich durch Geld zur Knechtſchafft einzudringen.

Es folgt XXII. die Frage, (Interrogatio) die ſich von
ſelbſt verſteht, und ſo zu reden die gemeinſte, aber auch eine
von den kraͤfftigſten Figuren iſt. Zuweilen iſt ſie nur ein-
fach, und dann hat ſie ſo viel Nachdruck nicht, als wenn
ſie vielmahl hinter einander geſetzt wird. Die groſſe Weit-
laͤuftigkeit macht eine Frage auch nur matt; je kuͤrtzer aber
ihre Theile oder Glieder werden, und je hurtiger ſie auf
einander folgen, deſto ſchaͤrfer dringt ſie ein; ja ſtuͤrmt faſt
auf die Gemuͤther loß. Z. E. Canitz in ſeiner Satire von
der Poeſie:

Was fehlt? was ſicht dich an? Was iſts? Was macht dich toll?
Ein Wort. Was fuͤr ein Wort? das hinten reimen ſoll.

Eben auf die Art faͤngt Opitz ſein Schreiben an Nuͤßlern
mit etlichen Fragen hinter einander an: p. 177. der Poet. W.

Jſt das der freye Sinn? Sind dieſes die Gedancken,
Der unbewegte Muth, ſo vormahls ohne Schrancken,
Voll himmliſcher Begier, den Weg der Tugend gieng?
Jſt das des Phoͤbus Sohn, dem gantz ſein Hertze hieng,
Das Schloß der Ewigkeit in kurtzem zu erſteigen?

Etwas ungewoͤhnlicher iſt XXIII. die Anrede (Apoſtrophe)
an Lebloſe, Todte, Abweſende, aber auch wohl an gegenwaͤr-
tige Leute und Dinge, welche mit einer groſſen Hefftigkeit
geſchieht und nur in hitzigen Bewegungen des Gemuͤthes ſtatt
findet. Z. E. Flemming p. 363. redet den Maymonat an:

Sey
S 3
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[277/0305] Von den Figuren in der Poeſie. Ein Coͤrper bleibet doch, obgleich des Schattens Schein Sich groͤſſer macht als er. Die Zeit ſoll Richter ſeyn. Hier iſt der Schluß durch die Kuͤrtze ſo ſchoͤn geworden; Er kan aber wiederum auch bey der weitlaͤuftigern Schreibart doch von gutem Nachdrucke fallen, wenn er deſto nachdenck- licher und ſinnreicher iſt. Amthor beſchreibt die Liebe alter Maͤnner, und ſchließt die Strophe ſo: p. 165. Viel ſeltner ſieht es aus, wenn ſich ein greiſer Bart, Wie gleichwohl offt geſchieht, an Maͤdgen-Fleiſch verbrennet: Da muß die Brille weg, der Waden-Strumpf herbey, Und daß der Runtzeln Grund womit bedecket ſey, Der eingeſperrte Schatz aus allen Kaſten ſpringen, O Thorheit! ſich durch Geld zur Knechtſchafft einzudringen. Es folgt XXII. die Frage, (Interrogatio) die ſich von ſelbſt verſteht, und ſo zu reden die gemeinſte, aber auch eine von den kraͤfftigſten Figuren iſt. Zuweilen iſt ſie nur ein- fach, und dann hat ſie ſo viel Nachdruck nicht, als wenn ſie vielmahl hinter einander geſetzt wird. Die groſſe Weit- laͤuftigkeit macht eine Frage auch nur matt; je kuͤrtzer aber ihre Theile oder Glieder werden, und je hurtiger ſie auf einander folgen, deſto ſchaͤrfer dringt ſie ein; ja ſtuͤrmt faſt auf die Gemuͤther loß. Z. E. Canitz in ſeiner Satire von der Poeſie: Was fehlt? was ſicht dich an? Was iſts? Was macht dich toll? Ein Wort. Was fuͤr ein Wort? das hinten reimen ſoll. Eben auf die Art faͤngt Opitz ſein Schreiben an Nuͤßlern mit etlichen Fragen hinter einander an: p. 177. der Poet. W. Jſt das der freye Sinn? Sind dieſes die Gedancken, Der unbewegte Muth, ſo vormahls ohne Schrancken, Voll himmliſcher Begier, den Weg der Tugend gieng? Jſt das des Phoͤbus Sohn, dem gantz ſein Hertze hieng, Das Schloß der Ewigkeit in kurtzem zu erſteigen? Etwas ungewoͤhnlicher iſt XXIII. die Anrede (Apoſtrophe) an Lebloſe, Todte, Abweſende, aber auch wohl an gegenwaͤr- tige Leute und Dinge, welche mit einer groſſen Hefftigkeit geſchieht und nur in hitzigen Bewegungen des Gemuͤthes ſtatt findet. Z. E. Flemming p. 363. redet den Maymonat an: Sey S 3

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/305>, abgerufen am 24.11.2024.