Dein Sinn war in der Welt, Du wustest, daß sie mehr in ihren Armen hält, Als wo der Grentzstein liegt. Wer nie vom Vater kommen, Nie keinen fremden Ort in Augenschein genommen, Der weiß kaum, wo er lebt, und führt bestürtzten Wahn, Sieht dieses Haus der Welt mit halben Augen an. Der Tugend Heimat ist der Raum, so weit von Morgen Des Tages Vater geht; bis wo er für die Sorgen, Der Menschen stille Ruh durch seine Schwester schickt, Die denn der Wolcken Tuch mit Sternen überstickt.
Hier sieht ein jeder, daß bey Gelegenheit der ersten drey Zeilen alles übrige, als ein Lehrspruch beygefüget worden. Weil es aber etwas langweilig ist, so kan es besser eine moralische Betrachtung heißen. Von der kurtzen Art mag folgendes Exempel eine Probe geben. Es steht in Joh. Franckens irrdischem Helicon p. 94.
Ein Sinn, der Feuer hat, hat immer was zu schaffen, Bald schärft er seinen Witz, bald schärft er seine Waffen, Zwey Dinge machen uns berühmet und bekannt, Der Degen und das Buch, der Adel und Verstand.
Allhier begreift man leicht, daß diese Sprüche weit nach- drücklicher klingen, weil sie so kurtz gefasset worden. Ja, daß sie zuweilen noch weit kürtzer in einer, oder einer hal- ben Zeile eingeschlossen seyn können, wird unter andern fol- gendes Exempel aus Rachelii VI. Sat. Gut und Böse, zei- gen. p. 66.
Wie soll man denn, sprichst du, für GOtt den Höchsten treten? Wie soll man, sage mir, und warum soll man beten? Dafern du Rath begehrst, so bitte das allein; Was er, der höchste GOtt, vermeynet gut zu seyn. Er weiß es, was dir dient. Er meynet dich mit Treuen. Er schencket etc.
Von eben solcher Gattung sind auch zum XXIsten die Schluß- Sprüche,(Epiphonema) womit man ein gantzes Gedichte, oder eine Strophe desselben, auf eine nachdrückliche Art, mit einem denckwürdigen Satze, oder sinnreichen Gedancken endiget. Z. E. Opitz beschließt sein Gedicht an Zinckgräfen, wo er von der Poesie gehandelt hat; und sich wegen der elen- den Versmacher tröstet, folgendergestalt:
Ein
Das X. Capitel
Dein Sinn war in der Welt, Du wuſteſt, daß ſie mehr in ihren Armen haͤlt, Als wo der Grentzſtein liegt. Wer nie vom Vater kommen, Nie keinen fremden Ort in Augenſchein genommen, Der weiß kaum, wo er lebt, und fuͤhrt beſtuͤrtzten Wahn, Sieht dieſes Haus der Welt mit halben Augen an. Der Tugend Heimat iſt der Raum, ſo weit von Morgen Des Tages Vater geht; bis wo er fuͤr die Sorgen, Der Menſchen ſtille Ruh durch ſeine Schweſter ſchickt, Die denn der Wolcken Tuch mit Sternen uͤberſtickt.
Hier ſieht ein jeder, daß bey Gelegenheit der erſten drey Zeilen alles uͤbrige, als ein Lehrſpruch beygefuͤget worden. Weil es aber etwas langweilig iſt, ſo kan es beſſer eine moraliſche Betrachtung heißen. Von der kurtzen Art mag folgendes Exempel eine Probe geben. Es ſteht in Joh. Franckens irrdiſchem Helicon p. 94.
Ein Sinn, der Feuer hat, hat immer was zu ſchaffen, Bald ſchaͤrft er ſeinen Witz, bald ſchaͤrft er ſeine Waffen, Zwey Dinge machen uns beruͤhmet und bekannt, Der Degen und das Buch, der Adel und Verſtand.
Allhier begreift man leicht, daß dieſe Spruͤche weit nach- druͤcklicher klingen, weil ſie ſo kurtz gefaſſet worden. Ja, daß ſie zuweilen noch weit kuͤrtzer in einer, oder einer hal- ben Zeile eingeſchloſſen ſeyn koͤnnen, wird unter andern fol- gendes Exempel aus Rachelii VI. Sat. Gut und Boͤſe, zei- gen. p. 66.
Wie ſoll man denn, ſprichſt du, fuͤr GOtt den Hoͤchſten treten? Wie ſoll man, ſage mir, und warum ſoll man beten? Dafern du Rath begehrſt, ſo bitte das allein; Was er, der hoͤchſte GOtt, vermeynet gut zu ſeyn. Er weiß es, was dir dient. Er meynet dich mit Treuen. Er ſchencket ꝛc.
Von eben ſolcher Gattung ſind auch zum XXIſten die Schluß- Spruͤche,(Epiphonema) womit man ein gantzes Gedichte, oder eine Strophe deſſelben, auf eine nachdruͤckliche Art, mit einem denckwuͤrdigen Satze, oder ſinnreichen Gedancken endiget. Z. E. Opitz beſchließt ſein Gedicht an Zinckgraͤfen, wo er von der Poeſie gehandelt hat; und ſich wegen der elen- den Versmacher troͤſtet, folgendergeſtalt:
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Das X. Capitel
Dein Sinn war in der Welt,
Du wuſteſt, daß ſie mehr in ihren Armen haͤlt,
Als wo der Grentzſtein liegt. Wer nie vom Vater kommen,
Nie keinen fremden Ort in Augenſchein genommen,
Der weiß kaum, wo er lebt, und fuͤhrt beſtuͤrtzten Wahn,
Sieht dieſes Haus der Welt mit halben Augen an.
Der Tugend Heimat iſt der Raum, ſo weit von Morgen
Des Tages Vater geht; bis wo er fuͤr die Sorgen,
Der Menſchen ſtille Ruh durch ſeine Schweſter ſchickt,
Die denn der Wolcken Tuch mit Sternen uͤberſtickt.
Hier ſieht ein jeder, daß bey Gelegenheit der erſten drey
Zeilen alles uͤbrige, als ein Lehrſpruch beygefuͤget worden.
Weil es aber etwas langweilig iſt, ſo kan es beſſer eine
moraliſche Betrachtung heißen. Von der kurtzen Art mag
folgendes Exempel eine Probe geben. Es ſteht in Joh.
Franckens irrdiſchem Helicon p. 94.
Ein Sinn, der Feuer hat, hat immer was zu ſchaffen,
Bald ſchaͤrft er ſeinen Witz, bald ſchaͤrft er ſeine Waffen,
Zwey Dinge machen uns beruͤhmet und bekannt,
Der Degen und das Buch, der Adel und Verſtand.
Allhier begreift man leicht, daß dieſe Spruͤche weit nach-
druͤcklicher klingen, weil ſie ſo kurtz gefaſſet worden. Ja,
daß ſie zuweilen noch weit kuͤrtzer in einer, oder einer hal-
ben Zeile eingeſchloſſen ſeyn koͤnnen, wird unter andern fol-
gendes Exempel aus Rachelii VI. Sat. Gut und Boͤſe, zei-
gen. p. 66.
Wie ſoll man denn, ſprichſt du, fuͤr GOtt den Hoͤchſten treten?
Wie ſoll man, ſage mir, und warum ſoll man beten?
Dafern du Rath begehrſt, ſo bitte das allein;
Was er, der hoͤchſte GOtt, vermeynet gut zu ſeyn.
Er weiß es, was dir dient. Er meynet dich mit Treuen.
Er ſchencket ꝛc.
Von eben ſolcher Gattung ſind auch zum XXIſten die Schluß-
Spruͤche, (Epiphonema) womit man ein gantzes Gedichte,
oder eine Strophe deſſelben, auf eine nachdruͤckliche Art,
mit einem denckwuͤrdigen Satze, oder ſinnreichen Gedancken
endiget. Z. E. Opitz beſchließt ſein Gedicht an Zinckgraͤfen,
wo er von der Poeſie gehandelt hat; und ſich wegen der elen-
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Ein
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/304>, abgerufen am 24.11.2024.
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