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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das VIII. Capitel
Wie diesem, dessen Fleiß Minuten hat zu zehlen,
Der kommt, den guten Tag zu bieten und zu stehlen.

Um das zehlen ist es einem Fleißigen wohl nicht zu thun; aber
es heist hier beobachten, ja theuer und werth halten, weil man
solche Dinge genau nachzuzehlen pflegt. Jmgleichen das
stehlen schicket sich eigentlich nicht zum Tage. Aber es heißt
hier unbrauchbar machen, weil man Sachen, die uns gestoh-
len werden, nicht mehr zu seinem Nutzen anwenden kan.
Opitz schreibt p. 166. der poetischen Wälder:

Jch kenne den Weg auch. Sehr offt hab ich gemessen
Den grünen Helicon, bin oben auf gesessen,
Durch mich wird itzt das Thun in Deutschland aufgebracht,
Das künftig trotzen kan, der schönsten Sprachen Pracht.
Wer diesen Zweck erlangt, der darf nicht unten kleben,
Und wär er zehnmahl todt, so soll er dennoch leben.
GOtt herbergt selbst in ihm, ja was er denckt und schafft,
Reucht nach Unsterblichkeit, schmeckt nach des Himmels Krafft etc.

Den Helicon messen, heist hier darauf gehen: weil man
mit Schritten zu messen pflegt. Den schönsten Sprachen
trotzen, heißt hier ihnen an Schönheit gleich gehen. Unten
kleben, heist hier unten bleiben; leben heist unvergeßlich
seyn; herbergen, heißt in etwas anzutreffen seyn; nach Un-
sterblichkeit riechen, und nach des Himmels Krafft schme-
cken,
heist nur jenes und dieses zu verstehen geben, und an sich
spüren lassen. Und diese Exempel können davon genug seyn.

Wenn die Metaphora länger als in einem Worte fort-
gesetzt wird, so heißt sie eine Allegorie. Zum Exempel
Flemming schreibt so von einem Bräutigam:

Viel tausend tausend feuchte Küsse,
Bethauen die vermählte Hand.
Damit der Liebe trächtigs Land,
Hinkünftig nicht vertrocknen müsse.

Die Liebe wird hier als ein besäeter Acker vorgestellet, der ei-
nes nassen Thaues benöthiget ist, damit er nicht verdorre:
Und diesen findet der Poet in den feuchten Küssen des Bräu-
tigams. Canitz beschreibt die Reizungen der bösen Lüste un-
ter dem Bilde des ersten Sündenfalles:

Wir
Das VIII. Capitel
Wie dieſem, deſſen Fleiß Minuten hat zu zehlen,
Der kommt, den guten Tag zu bieten und zu ſtehlen.

Um das zehlen iſt es einem Fleißigen wohl nicht zu thun; aber
es heiſt hier beobachten, ja theuer und werth halten, weil man
ſolche Dinge genau nachzuzehlen pflegt. Jmgleichen das
ſtehlen ſchicket ſich eigentlich nicht zum Tage. Aber es heißt
hier unbrauchbar machen, weil man Sachen, die uns geſtoh-
len werden, nicht mehr zu ſeinem Nutzen anwenden kan.
Opitz ſchreibt p. 166. der poetiſchen Waͤlder:

Jch kenne den Weg auch. Sehr offt hab ich gemeſſen
Den gruͤnen Helicon, bin oben auf geſeſſen,
Durch mich wird itzt das Thun in Deutſchland aufgebracht,
Das kuͤnftig trotzen kan, der ſchoͤnſten Sprachen Pracht.
Wer dieſen Zweck erlangt, der darf nicht unten kleben,
Und waͤr er zehnmahl todt, ſo ſoll er dennoch leben.
GOtt herbergt ſelbſt in ihm, ja was er denckt und ſchafft,
Reucht nach Unſterblichkeit, ſchmeckt nach des Himmels Krafft ꝛc.

Den Helicon meſſen, heiſt hier darauf gehen: weil man
mit Schritten zu meſſen pflegt. Den ſchoͤnſten Sprachen
trotzen, heißt hier ihnen an Schoͤnheit gleich gehen. Unten
kleben, heiſt hier unten bleiben; leben heiſt unvergeßlich
ſeyn; herbergen, heißt in etwas anzutreffen ſeyn; nach Un-
ſterblichkeit riechen, und nach des Himmels Krafft ſchme-
cken,
heiſt nur jenes und dieſes zu verſtehen geben, und an ſich
ſpuͤren laſſen. Und dieſe Exempel koͤnnen davon genug ſeyn.

Wenn die Metaphora laͤnger als in einem Worte fort-
geſetzt wird, ſo heißt ſie eine Allegorie. Zum Exempel
Flemming ſchreibt ſo von einem Braͤutigam:

Viel tauſend tauſend feuchte Kuͤſſe,
Bethauen die vermaͤhlte Hand.
Damit der Liebe traͤchtigs Land,
Hinkuͤnftig nicht vertrocknen muͤſſe.

Die Liebe wird hier als ein beſaͤeter Acker vorgeſtellet, der ei-
nes naſſen Thaues benoͤthiget iſt, damit er nicht verdorre:
Und dieſen findet der Poet in den feuchten Kuͤſſen des Braͤu-
tigams. Canitz beſchreibt die Reizungen der boͤſen Luͤſte un-
ter dem Bilde des erſten Suͤndenfalles:

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[220/0248] Das VIII. Capitel Wie dieſem, deſſen Fleiß Minuten hat zu zehlen, Der kommt, den guten Tag zu bieten und zu ſtehlen. Um das zehlen iſt es einem Fleißigen wohl nicht zu thun; aber es heiſt hier beobachten, ja theuer und werth halten, weil man ſolche Dinge genau nachzuzehlen pflegt. Jmgleichen das ſtehlen ſchicket ſich eigentlich nicht zum Tage. Aber es heißt hier unbrauchbar machen, weil man Sachen, die uns geſtoh- len werden, nicht mehr zu ſeinem Nutzen anwenden kan. Opitz ſchreibt p. 166. der poetiſchen Waͤlder: Jch kenne den Weg auch. Sehr offt hab ich gemeſſen Den gruͤnen Helicon, bin oben auf geſeſſen, Durch mich wird itzt das Thun in Deutſchland aufgebracht, Das kuͤnftig trotzen kan, der ſchoͤnſten Sprachen Pracht. Wer dieſen Zweck erlangt, der darf nicht unten kleben, Und waͤr er zehnmahl todt, ſo ſoll er dennoch leben. GOtt herbergt ſelbſt in ihm, ja was er denckt und ſchafft, Reucht nach Unſterblichkeit, ſchmeckt nach des Himmels Krafft ꝛc. Den Helicon meſſen, heiſt hier darauf gehen: weil man mit Schritten zu meſſen pflegt. Den ſchoͤnſten Sprachen trotzen, heißt hier ihnen an Schoͤnheit gleich gehen. Unten kleben, heiſt hier unten bleiben; leben heiſt unvergeßlich ſeyn; herbergen, heißt in etwas anzutreffen ſeyn; nach Un- ſterblichkeit riechen, und nach des Himmels Krafft ſchme- cken, heiſt nur jenes und dieſes zu verſtehen geben, und an ſich ſpuͤren laſſen. Und dieſe Exempel koͤnnen davon genug ſeyn. Wenn die Metaphora laͤnger als in einem Worte fort- geſetzt wird, ſo heißt ſie eine Allegorie. Zum Exempel Flemming ſchreibt ſo von einem Braͤutigam: Viel tauſend tauſend feuchte Kuͤſſe, Bethauen die vermaͤhlte Hand. Damit der Liebe traͤchtigs Land, Hinkuͤnftig nicht vertrocknen muͤſſe. Die Liebe wird hier als ein beſaͤeter Acker vorgeſtellet, der ei- nes naſſen Thaues benoͤthiget iſt, damit er nicht verdorre: Und dieſen findet der Poet in den feuchten Kuͤſſen des Braͤu- tigams. Canitz beſchreibt die Reizungen der boͤſen Luͤſte un- ter dem Bilde des erſten Suͤndenfalles: Wir

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/248>, abgerufen am 24.04.2024.