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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das VIII. Capitel
Die Erde wird der lüstern Sonnen Braut,
Die ihren Bräutigam stets näher treten schaut.
Sie schmückt sich schon zur neuen Hochzeit-Feyer:
Weil Phöbus ihren Wittwen-Schleyer,
Den Schnee und Eis ihr umgethan,
Aus heißer Brunst nicht ferner dulden kan.

Diese Stelle kan vor ein Muster des guten verblümten Aus-
druckes angesehen werden. Das frühe Morgengold auf den
Zinnen der Thürme ist das goldfarbigte Licht der Morgen-
röthe und der hervorbrechenden Sonnenstrahlen, so sich an den
Thurmspitzen zuerst zeigen. Der Nordwind wird seiner
Kälte halber einem alten Manne, und der warme Zephir ei-
nem Jünglinge verglichen. Die Erde wird wegen ihres
Putzes im Frühlinge als eine Braut, und die Sonne als ihr
lüsterner Bräutigam vorgestellt; weil sie so unverwandt
nach derselben ihre Strahlen schießet, wie ein verliebter
Freyer bey seiner Liebsten zu thun pflegt. Der Schnee des
vergangenen Winters, muß endlich, seiner Farbe halber,
einen Wittwen-Schleyer abgeben, den die brünstige Sonne
ihr vom Angesichte gezogen. Wer hier nicht den Reich-
thum eines poetischen Witzes wahrnimmt, der muß gewiß
keinen Geschmack an schönen Dingen finden können.

Ein jeder sieht aber von sich selber wohl, daß hier fast
nichts anders als die Metaphora vorgekommen, welche sonst
bey den Lehrern der Rede-Kunst die erste und hauptsächlichste
Gattung verblümter Redensarten ist. Diese war auch ein-
zig und allein den Alten, z. E. Aristoteli bekannt, und die
übrigen hat man erst nach der Zeit angemercket. Cicero
nennt die Metaphora Translatio; beyde Wörter haben eine
sehr allgemeine Bedeutung, und schicken sich auch so gar vor
die Metonymie, Synecdoche und Jronie. Deutsch müste
mans eine Versetzung oder einen Wechsel nennen, denn die-
ses drückt die Natur der Sache ziemlich aus; die Metony-
mie aber als die andre Gattung verblümter Redensarten,
könnte eine Nahmenänderung heißen. Doch wir müssen
sie alle nach der Ordnung durchgehen und mit Exempeln aus
unsern Poeten erläutern.

Die
Das VIII. Capitel
Die Erde wird der luͤſtern Sonnen Braut,
Die ihren Braͤutigam ſtets naͤher treten ſchaut.
Sie ſchmuͤckt ſich ſchon zur neuen Hochzeit-Feyer:
Weil Phoͤbus ihren Wittwen-Schleyer,
Den Schnee und Eis ihr umgethan,
Aus heißer Brunſt nicht ferner dulden kan.

Dieſe Stelle kan vor ein Muſter des guten verbluͤmten Aus-
druckes angeſehen werden. Das fruͤhe Morgengold auf den
Zinnen der Thuͤrme iſt das goldfarbigte Licht der Morgen-
roͤthe und der hervorbrechenden Sonnenſtrahlen, ſo ſich an den
Thurmſpitzen zuerſt zeigen. Der Nordwind wird ſeiner
Kaͤlte halber einem alten Manne, und der warme Zephir ei-
nem Juͤnglinge verglichen. Die Erde wird wegen ihres
Putzes im Fruͤhlinge als eine Braut, und die Sonne als ihr
luͤſterner Braͤutigam vorgeſtellt; weil ſie ſo unverwandt
nach derſelben ihre Strahlen ſchießet, wie ein verliebter
Freyer bey ſeiner Liebſten zu thun pflegt. Der Schnee des
vergangenen Winters, muß endlich, ſeiner Farbe halber,
einen Wittwen-Schleyer abgeben, den die bruͤnſtige Sonne
ihr vom Angeſichte gezogen. Wer hier nicht den Reich-
thum eines poetiſchen Witzes wahrnimmt, der muß gewiß
keinen Geſchmack an ſchoͤnen Dingen finden koͤnnen.

Ein jeder ſieht aber von ſich ſelber wohl, daß hier faſt
nichts anders als die Metaphora vorgekommen, welche ſonſt
bey den Lehrern der Rede-Kunſt die erſte und hauptſaͤchlichſte
Gattung verbluͤmter Redensarten iſt. Dieſe war auch ein-
zig und allein den Alten, z. E. Ariſtoteli bekannt, und die
uͤbrigen hat man erſt nach der Zeit angemercket. Cicero
nennt die Metaphora Translatio; beyde Woͤrter haben eine
ſehr allgemeine Bedeutung, und ſchicken ſich auch ſo gar vor
die Metonymie, Synecdoche und Jronie. Deutſch muͤſte
mans eine Verſetzung oder einen Wechſel nennen, denn die-
ſes druͤckt die Natur der Sache ziemlich aus; die Metony-
mie aber als die andre Gattung verbluͤmter Redensarten,
koͤnnte eine Nahmenaͤnderung heißen. Doch wir muͤſſen
ſie alle nach der Ordnung durchgehen und mit Exempeln aus
unſern Poeten erlaͤutern.

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[218/0246] Das VIII. Capitel Die Erde wird der luͤſtern Sonnen Braut, Die ihren Braͤutigam ſtets naͤher treten ſchaut. Sie ſchmuͤckt ſich ſchon zur neuen Hochzeit-Feyer: Weil Phoͤbus ihren Wittwen-Schleyer, Den Schnee und Eis ihr umgethan, Aus heißer Brunſt nicht ferner dulden kan. Dieſe Stelle kan vor ein Muſter des guten verbluͤmten Aus- druckes angeſehen werden. Das fruͤhe Morgengold auf den Zinnen der Thuͤrme iſt das goldfarbigte Licht der Morgen- roͤthe und der hervorbrechenden Sonnenſtrahlen, ſo ſich an den Thurmſpitzen zuerſt zeigen. Der Nordwind wird ſeiner Kaͤlte halber einem alten Manne, und der warme Zephir ei- nem Juͤnglinge verglichen. Die Erde wird wegen ihres Putzes im Fruͤhlinge als eine Braut, und die Sonne als ihr luͤſterner Braͤutigam vorgeſtellt; weil ſie ſo unverwandt nach derſelben ihre Strahlen ſchießet, wie ein verliebter Freyer bey ſeiner Liebſten zu thun pflegt. Der Schnee des vergangenen Winters, muß endlich, ſeiner Farbe halber, einen Wittwen-Schleyer abgeben, den die bruͤnſtige Sonne ihr vom Angeſichte gezogen. Wer hier nicht den Reich- thum eines poetiſchen Witzes wahrnimmt, der muß gewiß keinen Geſchmack an ſchoͤnen Dingen finden koͤnnen. Ein jeder ſieht aber von ſich ſelber wohl, daß hier faſt nichts anders als die Metaphora vorgekommen, welche ſonſt bey den Lehrern der Rede-Kunſt die erſte und hauptſaͤchlichſte Gattung verbluͤmter Redensarten iſt. Dieſe war auch ein- zig und allein den Alten, z. E. Ariſtoteli bekannt, und die uͤbrigen hat man erſt nach der Zeit angemercket. Cicero nennt die Metaphora Translatio; beyde Woͤrter haben eine ſehr allgemeine Bedeutung, und ſchicken ſich auch ſo gar vor die Metonymie, Synecdoche und Jronie. Deutſch muͤſte mans eine Verſetzung oder einen Wechſel nennen, denn die- ſes druͤckt die Natur der Sache ziemlich aus; die Metony- mie aber als die andre Gattung verbluͤmter Redensarten, koͤnnte eine Nahmenaͤnderung heißen. Doch wir muͤſſen ſie alle nach der Ordnung durchgehen und mit Exempeln aus unſern Poeten erlaͤutern. Die

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/246>, abgerufen am 26.04.2024.