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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das VIII. Capitel
Ankunft ihres Liebsten. Endlich giebt sie tausend schöne
Kinder, das ist in der eigentlichen Sprache zu reden Blumen
und Früchte. Und wer sieht hier nicht, daß diese Strophe
durch ihre verblümte Redensarten weit schöner und geistrei-
cher geworden, als wenn sie aus lauter eigentlichen Ausdrü-
ckungen bestanden hätte. Noch eins zum Uberflusse aus eben
dem Poeten p. 353.

Die verlebte Welt wird jünger,
Und streicht mit verliebtem Finger,
Jhre Runtzeln von der Haut.
Seht, seht, wie sie aus den Feldern,
Aus den Auen, aus den Wäldern,
Mit verbuhlten Augen schaut.

Hier erhellet ja wohl deutlich genug, was ein poetischer Geist,
was eine edle Art zu dencken, und ein feuriger ungemeiner
Ausdruck sey. Dies ist die Sprache der Poeten, dadurch
sie sich von der magern prosaischen Schreibart unterscheiden.
Man versuche es, und zertrenne auch hier das Sylbenmaaß,
man verstecke die Reime wie man will: Es wird doch ein poe-
tischer Geist hervorleuchten. Daß aber dieses die rechte
Probe des poetischen Geistes sey, lehrt uns Horatz, der in der
IV. Satire seines I. B. ausdrücklich sagt, daß seine und des
Lucilii Verße nichts poetisches mehr an sich behielten, so bald
man durch die Versetzung der Worte ihnen das Sylben-
maaß genommen. Weit anders verhalte es sich mit Ennio,
der die poetische Schreibart in seiner Gewalt gehabt. Denn
wenn man gleich die Worte: Nachdem die scheußliche
Zwietracht die eisernen Pfosten und Thore des Krieges
erbrochen:
noch so sehr versetzen wolle; so würde man doch
allezeit die Glieder eines zerlegten Poeten darinn antreffen.
Es ist werth, daß ich das Lateinische davon hersetze.

Non satis est puris versum perscribere verbis,
Quem si dissoluas, quiuis stomachetur. &c.
His, ego quae nunc,
Olim quae scripsit Lucilius, eripias si
Tempora certa modosque, & quod prius ordine verbum est,
Posterius facias, praeponens ultima primis,
Non

Das VIII. Capitel
Ankunft ihres Liebſten. Endlich giebt ſie tauſend ſchoͤne
Kinder, das iſt in der eigentlichen Sprache zu reden Blumen
und Fruͤchte. Und wer ſieht hier nicht, daß dieſe Strophe
durch ihre verbluͤmte Redensarten weit ſchoͤner und geiſtrei-
cher geworden, als wenn ſie aus lauter eigentlichen Ausdruͤ-
ckungen beſtanden haͤtte. Noch eins zum Uberfluſſe aus eben
dem Poeten p. 353.

Die verlebte Welt wird juͤnger,
Und ſtreicht mit verliebtem Finger,
Jhre Runtzeln von der Haut.
Seht, ſeht, wie ſie aus den Feldern,
Aus den Auen, aus den Waͤldern,
Mit verbuhlten Augen ſchaut.

Hier erhellet ja wohl deutlich genug, was ein poetiſcher Geiſt,
was eine edle Art zu dencken, und ein feuriger ungemeiner
Ausdruck ſey. Dies iſt die Sprache der Poeten, dadurch
ſie ſich von der magern proſaiſchen Schreibart unterſcheiden.
Man verſuche es, und zertrenne auch hier das Sylbenmaaß,
man verſtecke die Reime wie man will: Es wird doch ein poe-
tiſcher Geiſt hervorleuchten. Daß aber dieſes die rechte
Probe des poetiſchen Geiſtes ſey, lehrt uns Horatz, der in der
IV. Satire ſeines I. B. ausdruͤcklich ſagt, daß ſeine und des
Lucilii Verße nichts poetiſches mehr an ſich behielten, ſo bald
man durch die Verſetzung der Worte ihnen das Sylben-
maaß genommen. Weit anders verhalte es ſich mit Ennio,
der die poetiſche Schreibart in ſeiner Gewalt gehabt. Denn
wenn man gleich die Worte: Nachdem die ſcheußliche
Zwietracht die eiſernen Pfoſten und Thore des Krieges
erbrochen:
noch ſo ſehr verſetzen wolle; ſo wuͤrde man doch
allezeit die Glieder eines zerlegten Poeten darinn antreffen.
Es iſt werth, daß ich das Lateiniſche davon herſetze.

Non ſatis eſt puris verſum perſcribere verbis,
Quem ſi diſſoluas, quiuis ſtomachetur. &c.
His, ego quae nunc,
Olim quae ſcripſit Lucilius, eripias ſi
Tempora certa modosque, & quod prius ordine verbum eſt,
Poſterius facias, præponens ultima primis,
Non
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[216/0244] Das VIII. Capitel Ankunft ihres Liebſten. Endlich giebt ſie tauſend ſchoͤne Kinder, das iſt in der eigentlichen Sprache zu reden Blumen und Fruͤchte. Und wer ſieht hier nicht, daß dieſe Strophe durch ihre verbluͤmte Redensarten weit ſchoͤner und geiſtrei- cher geworden, als wenn ſie aus lauter eigentlichen Ausdruͤ- ckungen beſtanden haͤtte. Noch eins zum Uberfluſſe aus eben dem Poeten p. 353. Die verlebte Welt wird juͤnger, Und ſtreicht mit verliebtem Finger, Jhre Runtzeln von der Haut. Seht, ſeht, wie ſie aus den Feldern, Aus den Auen, aus den Waͤldern, Mit verbuhlten Augen ſchaut. Hier erhellet ja wohl deutlich genug, was ein poetiſcher Geiſt, was eine edle Art zu dencken, und ein feuriger ungemeiner Ausdruck ſey. Dies iſt die Sprache der Poeten, dadurch ſie ſich von der magern proſaiſchen Schreibart unterſcheiden. Man verſuche es, und zertrenne auch hier das Sylbenmaaß, man verſtecke die Reime wie man will: Es wird doch ein poe- tiſcher Geiſt hervorleuchten. Daß aber dieſes die rechte Probe des poetiſchen Geiſtes ſey, lehrt uns Horatz, der in der IV. Satire ſeines I. B. ausdruͤcklich ſagt, daß ſeine und des Lucilii Verße nichts poetiſches mehr an ſich behielten, ſo bald man durch die Verſetzung der Worte ihnen das Sylben- maaß genommen. Weit anders verhalte es ſich mit Ennio, der die poetiſche Schreibart in ſeiner Gewalt gehabt. Denn wenn man gleich die Worte: Nachdem die ſcheußliche Zwietracht die eiſernen Pfoſten und Thore des Krieges erbrochen: noch ſo ſehr verſetzen wolle; ſo wuͤrde man doch allezeit die Glieder eines zerlegten Poeten darinn antreffen. Es iſt werth, daß ich das Lateiniſche davon herſetze. Non ſatis eſt puris verſum perſcribere verbis, Quem ſi diſſoluas, quiuis ſtomachetur. &c. His, ego quae nunc, Olim quae ſcripſit Lucilius, eripias ſi Tempora certa modosque, & quod prius ordine verbum eſt, Poſterius facias, præponens ultima primis, Non

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/244>, abgerufen am 24.11.2024.