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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von verblümten Redens-Arten.
ner im 38. Cap. ausdrücklich, daß die uneigentlichen Be-
deutungen der Wörter zu allererst zwar aus Mangel und
Dürftigkeit der Sprachen aufgekommen; hernach aber auch
zur Anmuth und Zierde gebraucht worden: Wie man auch
die Kleidungen anfänglich zur Bedeckung unsrer Blöße,
nachmahls aber zum Pracht ausgesonnen und eingeführet.
Er erweiset dieses durch verschiedene verblümte Reden, die
auch bey den lateinischen Bauren gewöhnlich gewesen; der-
gleichen etwa bey uns folgende wären: Der Wald ist mir
ausgestorben; der Baum hat den Krebs; die Zweige krie-
gen schon Augen; die Saat steht geil; der Acker ist fett;
das Getreyde brandig. u. d. g. Darauf erinnert er, daß
ausser diesen gemeinen Arten verblümter Reden, es noch eine
verwegnere Gattung gebe, die nicht aus dem Mangel der
Sprache; sondern aus einem feurigern Witze entsteht, und
der Rede viel Glantz und Schönheit zuwege bringet: welches
er denn mit vielen poetischen Exempeln erläutert. Jch will
desgleichen thun, um die Sache in ein völliges Licht zu setzen.
So schreibt Flemming p. 362.

Der verliebte Himmel lächelt,
Jn die gleich erwärmte Lufft,
Welche gleichsam Küsse fächelt,
Auf der schwangern Erden Klufft:
Die bald beyden, so sie liebet,
Tausend schöner Kinder giebet.

Wer sieht hier nicht einen weit edlern Poetischen Ausdruck
in verblümtem Verstande gebrauchte Worte und kühne Re-
densarten? Der Himmel muß verliebt heißen, welches man
sonst nur von verständigen Wesen sagt. Die Lufft muß
Küsse fächeln; weil sie so lieblich ist als eine freundliche
Schönheit, wenn sie einen Geliebten küssen will. Die Erde
ist schwanger, weil die Gewächse gleich einer Frucht in Mut-
terleibe, in ihr verborgen liegen, ehe sie im Frühlinge ausbre-
chen. Sie muß den Himmel und die Lufft lieben; welches
wieder nur in verblümtem Verstande angeht; weil sie sich
nehmlich bey der Gegenwart des freundlichen Himmels mit
ihrem Laube und Grase schmücket, wie eine Dirne gegen die

An-
O 4

Von verbluͤmten Redens-Arten.
ner im 38. Cap. ausdruͤcklich, daß die uneigentlichen Be-
deutungen der Woͤrter zu allererſt zwar aus Mangel und
Duͤrftigkeit der Sprachen aufgekommen; hernach aber auch
zur Anmuth und Zierde gebraucht worden: Wie man auch
die Kleidungen anfaͤnglich zur Bedeckung unſrer Bloͤße,
nachmahls aber zum Pracht ausgeſonnen und eingefuͤhret.
Er erweiſet dieſes durch verſchiedene verbluͤmte Reden, die
auch bey den lateiniſchen Bauren gewoͤhnlich geweſen; der-
gleichen etwa bey uns folgende waͤren: Der Wald iſt mir
ausgeſtorben; der Baum hat den Krebs; die Zweige krie-
gen ſchon Augen; die Saat ſteht geil; der Acker iſt fett;
das Getreyde brandig. u. d. g. Darauf erinnert er, daß
auſſer dieſen gemeinen Arten verbluͤmter Reden, es noch eine
verwegnere Gattung gebe, die nicht aus dem Mangel der
Sprache; ſondern aus einem feurigern Witze entſteht, und
der Rede viel Glantz und Schoͤnheit zuwege bringet: welches
er denn mit vielen poetiſchen Exempeln erlaͤutert. Jch will
desgleichen thun, um die Sache in ein voͤlliges Licht zu ſetzen.
So ſchreibt Flemming p. 362.

Der verliebte Himmel laͤchelt,
Jn die gleich erwaͤrmte Lufft,
Welche gleichſam Kuͤſſe faͤchelt,
Auf der ſchwangern Erden Klufft:
Die bald beyden, ſo ſie liebet,
Tauſend ſchoͤner Kinder giebet.

Wer ſieht hier nicht einen weit edlern Poetiſchen Ausdruck
in verbluͤmtem Verſtande gebrauchte Worte und kuͤhne Re-
densarten? Der Himmel muß verliebt heißen, welches man
ſonſt nur von verſtaͤndigen Weſen ſagt. Die Lufft muß
Kuͤſſe faͤcheln; weil ſie ſo lieblich iſt als eine freundliche
Schoͤnheit, wenn ſie einen Geliebten kuͤſſen will. Die Erde
iſt ſchwanger, weil die Gewaͤchſe gleich einer Frucht in Mut-
terleibe, in ihr verborgen liegen, ehe ſie im Fruͤhlinge ausbre-
chen. Sie muß den Himmel und die Lufft lieben; welches
wieder nur in verbluͤmtem Verſtande angeht; weil ſie ſich
nehmlich bey der Gegenwart des freundlichen Himmels mit
ihrem Laube und Graſe ſchmuͤcket, wie eine Dirne gegen die

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[215/0243] Von verbluͤmten Redens-Arten. ner im 38. Cap. ausdruͤcklich, daß die uneigentlichen Be- deutungen der Woͤrter zu allererſt zwar aus Mangel und Duͤrftigkeit der Sprachen aufgekommen; hernach aber auch zur Anmuth und Zierde gebraucht worden: Wie man auch die Kleidungen anfaͤnglich zur Bedeckung unſrer Bloͤße, nachmahls aber zum Pracht ausgeſonnen und eingefuͤhret. Er erweiſet dieſes durch verſchiedene verbluͤmte Reden, die auch bey den lateiniſchen Bauren gewoͤhnlich geweſen; der- gleichen etwa bey uns folgende waͤren: Der Wald iſt mir ausgeſtorben; der Baum hat den Krebs; die Zweige krie- gen ſchon Augen; die Saat ſteht geil; der Acker iſt fett; das Getreyde brandig. u. d. g. Darauf erinnert er, daß auſſer dieſen gemeinen Arten verbluͤmter Reden, es noch eine verwegnere Gattung gebe, die nicht aus dem Mangel der Sprache; ſondern aus einem feurigern Witze entſteht, und der Rede viel Glantz und Schoͤnheit zuwege bringet: welches er denn mit vielen poetiſchen Exempeln erlaͤutert. Jch will desgleichen thun, um die Sache in ein voͤlliges Licht zu ſetzen. So ſchreibt Flemming p. 362. Der verliebte Himmel laͤchelt, Jn die gleich erwaͤrmte Lufft, Welche gleichſam Kuͤſſe faͤchelt, Auf der ſchwangern Erden Klufft: Die bald beyden, ſo ſie liebet, Tauſend ſchoͤner Kinder giebet. Wer ſieht hier nicht einen weit edlern Poetiſchen Ausdruck in verbluͤmtem Verſtande gebrauchte Worte und kuͤhne Re- densarten? Der Himmel muß verliebt heißen, welches man ſonſt nur von verſtaͤndigen Weſen ſagt. Die Lufft muß Kuͤſſe faͤcheln; weil ſie ſo lieblich iſt als eine freundliche Schoͤnheit, wenn ſie einen Geliebten kuͤſſen will. Die Erde iſt ſchwanger, weil die Gewaͤchſe gleich einer Frucht in Mut- terleibe, in ihr verborgen liegen, ehe ſie im Fruͤhlinge ausbre- chen. Sie muß den Himmel und die Lufft lieben; welches wieder nur in verbluͤmtem Verſtande angeht; weil ſie ſich nehmlich bey der Gegenwart des freundlichen Himmels mit ihrem Laube und Graſe ſchmuͤcket, wie eine Dirne gegen die An- O 4

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/243>, abgerufen am 18.04.2024.