das Glück hatte, drey Jahre in des obgedachten Hn. Hof- raths Hause zu wohnen, und zugleich Erlaubniß bekam, mir dessen treffliche Bibliotheck zu Nutze zu machen. Hier lernte ich alle alte Scribenten, alle ausländische Poe- ten, alle Criticos, und ihre Gegner kennen. Jch müste ein grosses Register machen, wenn ich alle die grössern und kleinern Wercke anzeigen wollte, die ich in der Zeit durchgelesen, bloß in der Absicht mir selbst einen regelmäs- sigen Begriff von der Poesie zu machen; und endlich ei- ne Gewißheit in meinen Urtheilen zu erlangen. Was mir nun Aristoteles, Longin, Horatz, Scaliger, Boileau, Dacier, Bossu, Perrault, Bouhours, Fenelon, St. Evre- mont, Fontenelle, Callieres, Furetiere, Schafftsbury, Steele, imgleichen Corneille und Racine in den Vorre- den zu ihren Tragödien, und a. m. die mir itzo nicht ein- fallen, vor ein Licht gegeben; das werden diejenigen sich leicht vorstellen, so nur etliche davon gelesen haben. Hier- zu sind nachmahls noch des Castelvetro, Muralts und Voltaire Beurtheilungen alter und neuer Poeten, im- gleichen des Hn. Bodmers hieher gehörige Schrifften, ge- kommen, welche mich immer mehr in den alten Jdeen be- festiget, und meinem Gemüthe eine neue Befriedigung ge- geben haben.
Ob mir nun wohl schon im Jahr 1727 von einem grossen Kenner der Poesie, unserm grundgelehrten Herrn D. Mascou zugemuthet wurde, eine Poetische Anweisung nach meinen Begriffen heraus zu geben; so trauete ich mir doch solches nicht zu, nach Würdigkeit ins Werck zu richten. Jndessen fand sich das nechste Jahr eine An- zahl guter Freunde, die mich ersuchten, ihnen ein Poeti- sches Collegium zu lesen. Hier ergriff ich nun die Gele- genheit, mir den ersten Entwurf zu einer Critischen Dicht-
Kunst
Vorrede.
das Gluͤck hatte, drey Jahre in des obgedachten Hn. Hof- raths Hauſe zu wohnen, und zugleich Erlaubniß bekam, mir deſſen treffliche Bibliotheck zu Nutze zu machen. Hier lernte ich alle alte Scribenten, alle auslaͤndiſche Poe- ten, alle Criticos, und ihre Gegner kennen. Jch muͤſte ein groſſes Regiſter machen, wenn ich alle die groͤſſern und kleinern Wercke anzeigen wollte, die ich in der Zeit durchgeleſen, bloß in der Abſicht mir ſelbſt einen regelmaͤſ- ſigen Begriff von der Poeſie zu machen; und endlich ei- ne Gewißheit in meinen Urtheilen zu erlangen. Was mir nun Ariſtoteles, Longin, Horatz, Scaliger, Boileau, Dacier, Boſſu, Perrault, Bouhours, Fenelon, St. Evre- mont, Fontenelle, Callieres, Furetiere, Schafftsbury, Steele, imgleichen Corneille und Racine in den Vorre- den zu ihren Tragoͤdien, und a. m. die mir itzo nicht ein- fallen, vor ein Licht gegeben; das werden diejenigen ſich leicht vorſtellen, ſo nur etliche davon geleſen haben. Hier- zu ſind nachmahls noch des Caſtelvetro, Muralts und Voltaire Beurtheilungen alter und neuer Poeten, im- gleichen des Hn. Bodmers hieher gehoͤrige Schrifften, ge- kommen, welche mich immer mehr in den alten Jdeen be- feſtiget, und meinem Gemuͤthe eine neue Befriedigung ge- geben haben.
Ob mir nun wohl ſchon im Jahr 1727 von einem groſſen Kenner der Poeſie, unſerm grundgelehrten Herrn D. Maſcou zugemuthet wurde, eine Poetiſche Anweiſung nach meinen Begriffen heraus zu geben; ſo trauete ich mir doch ſolches nicht zu, nach Wuͤrdigkeit ins Werck zu richten. Jndeſſen fand ſich das nechſte Jahr eine An- zahl guter Freunde, die mich erſuchten, ihnen ein Poeti- ſches Collegium zu leſen. Hier ergriff ich nun die Gele- genheit, mir den erſten Entwurf zu einer Critiſchen Dicht-
Kunſt
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[0021]
Vorrede.
das Gluͤck hatte, drey Jahre in des obgedachten Hn. Hof-
raths Hauſe zu wohnen, und zugleich Erlaubniß bekam,
mir deſſen treffliche Bibliotheck zu Nutze zu machen.
Hier lernte ich alle alte Scribenten, alle auslaͤndiſche Poe-
ten, alle Criticos, und ihre Gegner kennen. Jch muͤſte
ein groſſes Regiſter machen, wenn ich alle die groͤſſern
und kleinern Wercke anzeigen wollte, die ich in der Zeit
durchgeleſen, bloß in der Abſicht mir ſelbſt einen regelmaͤſ-
ſigen Begriff von der Poeſie zu machen; und endlich ei-
ne Gewißheit in meinen Urtheilen zu erlangen. Was
mir nun Ariſtoteles, Longin, Horatz, Scaliger, Boileau,
Dacier, Boſſu, Perrault, Bouhours, Fenelon, St. Evre-
mont, Fontenelle, Callieres, Furetiere, Schafftsbury,
Steele, imgleichen Corneille und Racine in den Vorre-
den zu ihren Tragoͤdien, und a. m. die mir itzo nicht ein-
fallen, vor ein Licht gegeben; das werden diejenigen ſich
leicht vorſtellen, ſo nur etliche davon geleſen haben. Hier-
zu ſind nachmahls noch des Caſtelvetro, Muralts und
Voltaire Beurtheilungen alter und neuer Poeten, im-
gleichen des Hn. Bodmers hieher gehoͤrige Schrifften, ge-
kommen, welche mich immer mehr in den alten Jdeen be-
feſtiget, und meinem Gemuͤthe eine neue Befriedigung ge-
geben haben.
Ob mir nun wohl ſchon im Jahr 1727 von einem
groſſen Kenner der Poeſie, unſerm grundgelehrten Herrn
D. Maſcou zugemuthet wurde, eine Poetiſche Anweiſung
nach meinen Begriffen heraus zu geben; ſo trauete ich
mir doch ſolches nicht zu, nach Wuͤrdigkeit ins Werck zu
richten. Jndeſſen fand ſich das nechſte Jahr eine An-
zahl guter Freunde, die mich erſuchten, ihnen ein Poeti-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/21>, abgerufen am 27.07.2024.
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