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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie.
gantz vergist. So wird denn die Wahrscheinlichkeit zum
wenigsten in so weit erhalten, als dieselbe von einem Leser des
Heldengedichtes verlanget wird: Gesetzt daß die Sache an
sich selbst wunderlich genug aussehen würde.

Uberhaupt ist von der Wahrscheinlichkeit dieses anzu-
mercken, daß offt eine Sache, die an sich unglaublich und
unmöglich aussieht, durch den Zusammenhang mit andern
Begebenheiten, und unter gewissen Umständen nicht nur
möglich, sondern auch wahrscheinlich und glaublich werden
könne. Dahin gehören, zum Exempel, viele Fabeln, wo die
Götter oder andre Geister darzwischen kommen. Diesen
trauet man größere Kräffte zu, als bloßen Menschen: wenn
nun dieselbe einem Helden oder sonst einem von ihren Lieblin-
gen zu gefallen, was außerordentliches unternehmen, so man
sonst nicht glauben würde, so wird dieses eben dadurch wahr-
scheinlich, wenn es nur nicht an und vor sich selbst unmöglich
ist. Hierwieder hat nun Homerus gewiß verstoßen, wenn
er den Vulcan solche künstliche Wercke verfertigen läßt, die
gantz unbegreiflich sind. Er macht Dreyfüße, die von sich
selbst in die Versammlung der Götter spazieren. Er schmie-
det goldene Bildseulen, die nicht nur reden, sondern auch
dencken können. Er macht endlich dem Achilles einen
Schild, der eine besondre Beschreibung verdient. Erstlich
ist er mit einer so großen Menge von Bildern und Historien
gezieret, daß er zum wenigsten so groß müste gewesen seyn,
als des Tasso diamantner Schild aus der himmlischen Rüst-
kammer, dessen oben gedacht worden. Vors andre sind sei-
ne Figuren auf dem Schilde lebendig, denn sie rühren und
bewegen sich, so daß man sich selbige wie die Mücken vorstel-
len muß, so rund um den Schild schweben. Vors dritte,
sind zwey Städte darauf zu sehen, die zwey verschiedene
Sprachen reden, und wo zwey Redner sehr nachdrückliche
und bewegliche Vorstellungen an das Volck thun. Wie
ist das alles möglich, auch durch eine göttliche Macht zuwege
zu bringen? Kurtz, Homerus hat sich versehen, und die
Wahrscheinlichkeit nicht recht beobachtet.

Eben das kan man von seinen Göttern sagen, die er är-

ger
L 4

Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
gantz vergiſt. So wird denn die Wahrſcheinlichkeit zum
wenigſten in ſo weit erhalten, als dieſelbe von einem Leſer des
Heldengedichtes verlanget wird: Geſetzt daß die Sache an
ſich ſelbſt wunderlich genug ausſehen wuͤrde.

Uberhaupt iſt von der Wahrſcheinlichkeit dieſes anzu-
mercken, daß offt eine Sache, die an ſich unglaublich und
unmoͤglich ausſieht, durch den Zuſammenhang mit andern
Begebenheiten, und unter gewiſſen Umſtaͤnden nicht nur
moͤglich, ſondern auch wahrſcheinlich und glaublich werden
koͤnne. Dahin gehoͤren, zum Exempel, viele Fabeln, wo die
Goͤtter oder andre Geiſter darzwiſchen kommen. Dieſen
trauet man groͤßere Kraͤffte zu, als bloßen Menſchen: wenn
nun dieſelbe einem Helden oder ſonſt einem von ihren Lieblin-
gen zu gefallen, was außerordentliches unternehmen, ſo man
ſonſt nicht glauben wuͤrde, ſo wird dieſes eben dadurch wahr-
ſcheinlich, wenn es nur nicht an und vor ſich ſelbſt unmoͤglich
iſt. Hierwieder hat nun Homerus gewiß verſtoßen, wenn
er den Vulcan ſolche kuͤnſtliche Wercke verfertigen laͤßt, die
gantz unbegreiflich ſind. Er macht Dreyfuͤße, die von ſich
ſelbſt in die Verſammlung der Goͤtter ſpazieren. Er ſchmie-
det goldene Bildſeulen, die nicht nur reden, ſondern auch
dencken koͤnnen. Er macht endlich dem Achilles einen
Schild, der eine beſondre Beſchreibung verdient. Erſtlich
iſt er mit einer ſo großen Menge von Bildern und Hiſtorien
gezieret, daß er zum wenigſten ſo groß muͤſte geweſen ſeyn,
als des Taſſo diamantner Schild aus der himmliſchen Ruͤſt-
kammer, deſſen oben gedacht worden. Vors andre ſind ſei-
ne Figuren auf dem Schilde lebendig, denn ſie ruͤhren und
bewegen ſich, ſo daß man ſich ſelbige wie die Muͤcken vorſtel-
len muß, ſo rund um den Schild ſchweben. Vors dritte,
ſind zwey Staͤdte darauf zu ſehen, die zwey verſchiedene
Sprachen reden, und wo zwey Redner ſehr nachdruͤckliche
und bewegliche Vorſtellungen an das Volck thun. Wie
iſt das alles moͤglich, auch durch eine goͤttliche Macht zuwege
zu bringen? Kurtz, Homerus hat ſich verſehen, und die
Wahrſcheinlichkeit nicht recht beobachtet.

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ger
L 4
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[167/0195] Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. gantz vergiſt. So wird denn die Wahrſcheinlichkeit zum wenigſten in ſo weit erhalten, als dieſelbe von einem Leſer des Heldengedichtes verlanget wird: Geſetzt daß die Sache an ſich ſelbſt wunderlich genug ausſehen wuͤrde. Uberhaupt iſt von der Wahrſcheinlichkeit dieſes anzu- mercken, daß offt eine Sache, die an ſich unglaublich und unmoͤglich ausſieht, durch den Zuſammenhang mit andern Begebenheiten, und unter gewiſſen Umſtaͤnden nicht nur moͤglich, ſondern auch wahrſcheinlich und glaublich werden koͤnne. Dahin gehoͤren, zum Exempel, viele Fabeln, wo die Goͤtter oder andre Geiſter darzwiſchen kommen. Dieſen trauet man groͤßere Kraͤffte zu, als bloßen Menſchen: wenn nun dieſelbe einem Helden oder ſonſt einem von ihren Lieblin- gen zu gefallen, was außerordentliches unternehmen, ſo man ſonſt nicht glauben wuͤrde, ſo wird dieſes eben dadurch wahr- ſcheinlich, wenn es nur nicht an und vor ſich ſelbſt unmoͤglich iſt. Hierwieder hat nun Homerus gewiß verſtoßen, wenn er den Vulcan ſolche kuͤnſtliche Wercke verfertigen laͤßt, die gantz unbegreiflich ſind. Er macht Dreyfuͤße, die von ſich ſelbſt in die Verſammlung der Goͤtter ſpazieren. Er ſchmie- det goldene Bildſeulen, die nicht nur reden, ſondern auch dencken koͤnnen. Er macht endlich dem Achilles einen Schild, der eine beſondre Beſchreibung verdient. Erſtlich iſt er mit einer ſo großen Menge von Bildern und Hiſtorien gezieret, daß er zum wenigſten ſo groß muͤſte geweſen ſeyn, als des Taſſo diamantner Schild aus der himmliſchen Ruͤſt- kammer, deſſen oben gedacht worden. Vors andre ſind ſei- ne Figuren auf dem Schilde lebendig, denn ſie ruͤhren und bewegen ſich, ſo daß man ſich ſelbige wie die Muͤcken vorſtel- len muß, ſo rund um den Schild ſchweben. Vors dritte, ſind zwey Staͤdte darauf zu ſehen, die zwey verſchiedene Sprachen reden, und wo zwey Redner ſehr nachdruͤckliche und bewegliche Vorſtellungen an das Volck thun. Wie iſt das alles moͤglich, auch durch eine goͤttliche Macht zuwege zu bringen? Kurtz, Homerus hat ſich verſehen, und die Wahrſcheinlichkeit nicht recht beobachtet. Eben das kan man von ſeinen Goͤttern ſagen, die er aͤr- ger L 4

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/195>, abgerufen am 08.05.2024.