Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Das VI. Capitel
ger als die unvollkommensten Menschen geschildert hat. Sie
sind wie Menschen gebohren, verheyrathen sich wie Men-
schen, und vermehren ihre Geschlechter wie Menschen.
Sie sind allen unsern Leidenschafften, Kranckheiten, ja gar
der Gefahr des Todes unterworfen. Sie werden verwun-
det, vergießen Blut, und haben sogar einen Balbier nöthig.
Sie zancken sich, drohen einander Schläge, und verspotten
sich wie die kleinen Kinder. Es ist wahr, daß zu Homeri
Zeiten die Lehre von GOtt noch in dicken Finsternissen geste-
cket. Die Philosophen hatten sich noch nicht auf die Unter-
suchung der göttlichen Natur geleget, und von einer Offen-
barung wuste man nichts. Was uns also sehr unwahr-
scheinlich vorkommt, konnte damahls dem Volcke sehr wahr-
scheinlich klingen. Dem ungeachtet hätte doch Homerus
die Gottheiten nicht so verächtlich abbilden sollen, als er ge-
than. Man hielt sie zwar gröstentheils vor gewesene Men-
schen, aber doch vor solche, die vergöttert, das ist in einen voll-
kommnern Zustand versetzet worden. Dieses hätte also aus
ihren Beschreibungen erhellen müssen, damit man destomehr
Ehrerbietung vor ihnen bey sich empfunden hätte. Da die-
ses nun der Poet nicht gethan, so sind einige auf die Gedan-
cken gekommen, er habe mit Fleiß die Götter so lächerlich be-
schrieben, um die ernsthafften Thaten seiner Helden, mit
was lustigem abzuwechseln, und also dem Eckel seiner Leser
zuvorzukommen.

Kommen wir auf seine Helden, so hat man auch da vieles
bemercket, was wieder die Wahrscheinlichkeit läuft. Etliche
rechnen das Hauptwerck des gantzen Gedichtes, nehmlich
den Trojanischen Krieg hieher, und meynen es sey ungereimt
zu glauben, daß sich zwey tapfere Völcker um eines schönen
Weibes willen zehn Jahre lang die Köpfe zerschmeißen wür-
den. Allein dieses geschieht ohne Grund. Es hatte sich in
diesen Krieg der Ehrgeitz und die Rachgier mit eingemeischet.
Die Griechen wollten stärcker als die Trojaner, und diese
tapferer als jene seyn; und die Prinzessin Helena kam fast
gar darüber ins Vergessen. Andre können es nicht ver-
dauen, wenn der große Held Achilles seinen Gästen selbst

eine

Das VI. Capitel
ger als die unvollkommenſten Menſchen geſchildert hat. Sie
ſind wie Menſchen gebohren, verheyrathen ſich wie Men-
ſchen, und vermehren ihre Geſchlechter wie Menſchen.
Sie ſind allen unſern Leidenſchafften, Kranckheiten, ja gar
der Gefahr des Todes unterworfen. Sie werden verwun-
det, vergießen Blut, und haben ſogar einen Balbier noͤthig.
Sie zancken ſich, drohen einander Schlaͤge, und verſpotten
ſich wie die kleinen Kinder. Es iſt wahr, daß zu Homeri
Zeiten die Lehre von GOtt noch in dicken Finſterniſſen geſte-
cket. Die Philoſophen hatten ſich noch nicht auf die Unter-
ſuchung der goͤttlichen Natur geleget, und von einer Offen-
barung wuſte man nichts. Was uns alſo ſehr unwahr-
ſcheinlich vorkommt, konnte damahls dem Volcke ſehr wahr-
ſcheinlich klingen. Dem ungeachtet haͤtte doch Homerus
die Gottheiten nicht ſo veraͤchtlich abbilden ſollen, als er ge-
than. Man hielt ſie zwar groͤſtentheils vor geweſene Men-
ſchen, aber doch vor ſolche, die vergoͤttert, das iſt in einen voll-
kommnern Zuſtand verſetzet worden. Dieſes haͤtte alſo aus
ihren Beſchreibungen erhellen muͤſſen, damit man deſtomehr
Ehrerbietung vor ihnen bey ſich empfunden haͤtte. Da die-
ſes nun der Poet nicht gethan, ſo ſind einige auf die Gedan-
cken gekommen, er habe mit Fleiß die Goͤtter ſo laͤcherlich be-
ſchrieben, um die ernſthafften Thaten ſeiner Helden, mit
was luſtigem abzuwechſeln, und alſo dem Eckel ſeiner Leſer
zuvorzukommen.

Kommen wir auf ſeine Helden, ſo hat man auch da vieles
bemercket, was wieder die Wahrſcheinlichkeit laͤuft. Etliche
rechnen das Hauptwerck des gantzen Gedichtes, nehmlich
den Trojaniſchen Krieg hieher, und meynen es ſey ungereimt
zu glauben, daß ſich zwey tapfere Voͤlcker um eines ſchoͤnen
Weibes willen zehn Jahre lang die Koͤpfe zerſchmeißen wuͤr-
den. Allein dieſes geſchieht ohne Grund. Es hatte ſich in
dieſen Krieg der Ehrgeitz und die Rachgier mit eingemeiſchet.
Die Griechen wollten ſtaͤrcker als die Trojaner, und dieſe
tapferer als jene ſeyn; und die Prinzeſſin Helena kam faſt
gar daruͤber ins Vergeſſen. Andre koͤnnen es nicht ver-
dauen, wenn der große Held Achilles ſeinen Gaͤſten ſelbſt

eine
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0196" n="168"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das <hi rendition="#aq">VI.</hi> Capitel</hi></fw><lb/>
ger als die unvollkommen&#x017F;ten Men&#x017F;chen ge&#x017F;childert hat. Sie<lb/>
&#x017F;ind wie Men&#x017F;chen gebohren, verheyrathen &#x017F;ich wie Men-<lb/>
&#x017F;chen, und vermehren ihre Ge&#x017F;chlechter wie Men&#x017F;chen.<lb/>
Sie &#x017F;ind allen un&#x017F;ern Leiden&#x017F;chafften, Kranckheiten, ja gar<lb/>
der Gefahr des Todes unterworfen. Sie werden verwun-<lb/>
det, vergießen Blut, und haben &#x017F;ogar einen Balbier no&#x0364;thig.<lb/>
Sie zancken &#x017F;ich, drohen einander Schla&#x0364;ge, und ver&#x017F;potten<lb/>
&#x017F;ich wie die kleinen Kinder. Es i&#x017F;t wahr, daß zu Homeri<lb/>
Zeiten die Lehre von GOtt noch in dicken Fin&#x017F;terni&#x017F;&#x017F;en ge&#x017F;te-<lb/>
cket. Die Philo&#x017F;ophen hatten &#x017F;ich noch nicht auf die Unter-<lb/>
&#x017F;uchung der go&#x0364;ttlichen Natur geleget, und von einer Offen-<lb/>
barung wu&#x017F;te man nichts. Was uns al&#x017F;o &#x017F;ehr unwahr-<lb/>
&#x017F;cheinlich vorkommt, konnte damahls dem Volcke &#x017F;ehr wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlich klingen. Dem ungeachtet ha&#x0364;tte doch Homerus<lb/>
die Gottheiten nicht &#x017F;o vera&#x0364;chtlich abbilden &#x017F;ollen, als er ge-<lb/>
than. Man hielt &#x017F;ie zwar gro&#x0364;&#x017F;tentheils vor gewe&#x017F;ene Men-<lb/>
&#x017F;chen, aber doch vor &#x017F;olche, die vergo&#x0364;ttert, das i&#x017F;t in einen voll-<lb/>
kommnern Zu&#x017F;tand ver&#x017F;etzet worden. Die&#x017F;es ha&#x0364;tte al&#x017F;o aus<lb/>
ihren Be&#x017F;chreibungen erhellen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, damit man de&#x017F;tomehr<lb/>
Ehrerbietung vor ihnen bey &#x017F;ich empfunden ha&#x0364;tte. Da die-<lb/>
&#x017F;es nun der Poet nicht gethan, &#x017F;o &#x017F;ind einige auf die Gedan-<lb/>
cken gekommen, er habe mit Fleiß die Go&#x0364;tter &#x017F;o la&#x0364;cherlich be-<lb/>
&#x017F;chrieben, um die ern&#x017F;thafften Thaten &#x017F;einer Helden, mit<lb/>
was lu&#x017F;tigem abzuwech&#x017F;eln, und al&#x017F;o dem Eckel &#x017F;einer Le&#x017F;er<lb/>
zuvorzukommen.</p><lb/>
          <p>Kommen wir auf &#x017F;eine Helden, &#x017F;o hat man auch da vieles<lb/>
bemercket, was wieder die Wahr&#x017F;cheinlichkeit la&#x0364;uft. Etliche<lb/>
rechnen das Hauptwerck des gantzen Gedichtes, nehmlich<lb/>
den Trojani&#x017F;chen Krieg hieher, und meynen es &#x017F;ey ungereimt<lb/>
zu glauben, daß &#x017F;ich zwey tapfere Vo&#x0364;lcker um eines &#x017F;cho&#x0364;nen<lb/>
Weibes willen zehn Jahre lang die Ko&#x0364;pfe zer&#x017F;chmeißen wu&#x0364;r-<lb/>
den. Allein die&#x017F;es ge&#x017F;chieht ohne Grund. Es hatte &#x017F;ich in<lb/>
die&#x017F;en Krieg der Ehrgeitz und die Rachgier mit eingemei&#x017F;chet.<lb/>
Die Griechen wollten &#x017F;ta&#x0364;rcker als die Trojaner, und die&#x017F;e<lb/>
tapferer als jene &#x017F;eyn; und die Prinze&#x017F;&#x017F;in Helena kam fa&#x017F;t<lb/>
gar daru&#x0364;ber ins Verge&#x017F;&#x017F;en. Andre ko&#x0364;nnen es nicht ver-<lb/>
dauen, wenn der große Held Achilles &#x017F;einen Ga&#x0364;&#x017F;ten &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">eine</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[168/0196] Das VI. Capitel ger als die unvollkommenſten Menſchen geſchildert hat. Sie ſind wie Menſchen gebohren, verheyrathen ſich wie Men- ſchen, und vermehren ihre Geſchlechter wie Menſchen. Sie ſind allen unſern Leidenſchafften, Kranckheiten, ja gar der Gefahr des Todes unterworfen. Sie werden verwun- det, vergießen Blut, und haben ſogar einen Balbier noͤthig. Sie zancken ſich, drohen einander Schlaͤge, und verſpotten ſich wie die kleinen Kinder. Es iſt wahr, daß zu Homeri Zeiten die Lehre von GOtt noch in dicken Finſterniſſen geſte- cket. Die Philoſophen hatten ſich noch nicht auf die Unter- ſuchung der goͤttlichen Natur geleget, und von einer Offen- barung wuſte man nichts. Was uns alſo ſehr unwahr- ſcheinlich vorkommt, konnte damahls dem Volcke ſehr wahr- ſcheinlich klingen. Dem ungeachtet haͤtte doch Homerus die Gottheiten nicht ſo veraͤchtlich abbilden ſollen, als er ge- than. Man hielt ſie zwar groͤſtentheils vor geweſene Men- ſchen, aber doch vor ſolche, die vergoͤttert, das iſt in einen voll- kommnern Zuſtand verſetzet worden. Dieſes haͤtte alſo aus ihren Beſchreibungen erhellen muͤſſen, damit man deſtomehr Ehrerbietung vor ihnen bey ſich empfunden haͤtte. Da die- ſes nun der Poet nicht gethan, ſo ſind einige auf die Gedan- cken gekommen, er habe mit Fleiß die Goͤtter ſo laͤcherlich be- ſchrieben, um die ernſthafften Thaten ſeiner Helden, mit was luſtigem abzuwechſeln, und alſo dem Eckel ſeiner Leſer zuvorzukommen. Kommen wir auf ſeine Helden, ſo hat man auch da vieles bemercket, was wieder die Wahrſcheinlichkeit laͤuft. Etliche rechnen das Hauptwerck des gantzen Gedichtes, nehmlich den Trojaniſchen Krieg hieher, und meynen es ſey ungereimt zu glauben, daß ſich zwey tapfere Voͤlcker um eines ſchoͤnen Weibes willen zehn Jahre lang die Koͤpfe zerſchmeißen wuͤr- den. Allein dieſes geſchieht ohne Grund. Es hatte ſich in dieſen Krieg der Ehrgeitz und die Rachgier mit eingemeiſchet. Die Griechen wollten ſtaͤrcker als die Trojaner, und dieſe tapferer als jene ſeyn; und die Prinzeſſin Helena kam faſt gar daruͤber ins Vergeſſen. Andre koͤnnen es nicht ver- dauen, wenn der große Held Achilles ſeinen Gaͤſten ſelbſt eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/196
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/196>, abgerufen am 21.11.2024.