Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Das VI. Capitel ger als die unvollkommensten Menschen geschildert hat. Siesind wie Menschen gebohren, verheyrathen sich wie Men- schen, und vermehren ihre Geschlechter wie Menschen. Sie sind allen unsern Leidenschafften, Kranckheiten, ja gar der Gefahr des Todes unterworfen. Sie werden verwun- det, vergießen Blut, und haben sogar einen Balbier nöthig. Sie zancken sich, drohen einander Schläge, und verspotten sich wie die kleinen Kinder. Es ist wahr, daß zu Homeri Zeiten die Lehre von GOtt noch in dicken Finsternissen geste- cket. Die Philosophen hatten sich noch nicht auf die Unter- suchung der göttlichen Natur geleget, und von einer Offen- barung wuste man nichts. Was uns also sehr unwahr- scheinlich vorkommt, konnte damahls dem Volcke sehr wahr- scheinlich klingen. Dem ungeachtet hätte doch Homerus die Gottheiten nicht so verächtlich abbilden sollen, als er ge- than. Man hielt sie zwar gröstentheils vor gewesene Men- schen, aber doch vor solche, die vergöttert, das ist in einen voll- kommnern Zustand versetzet worden. Dieses hätte also aus ihren Beschreibungen erhellen müssen, damit man destomehr Ehrerbietung vor ihnen bey sich empfunden hätte. Da die- ses nun der Poet nicht gethan, so sind einige auf die Gedan- cken gekommen, er habe mit Fleiß die Götter so lächerlich be- schrieben, um die ernsthafften Thaten seiner Helden, mit was lustigem abzuwechseln, und also dem Eckel seiner Leser zuvorzukommen. Kommen wir auf seine Helden, so hat man auch da vieles eine
Das VI. Capitel ger als die unvollkommenſten Menſchen geſchildert hat. Sieſind wie Menſchen gebohren, verheyrathen ſich wie Men- ſchen, und vermehren ihre Geſchlechter wie Menſchen. Sie ſind allen unſern Leidenſchafften, Kranckheiten, ja gar der Gefahr des Todes unterworfen. Sie werden verwun- det, vergießen Blut, und haben ſogar einen Balbier noͤthig. Sie zancken ſich, drohen einander Schlaͤge, und verſpotten ſich wie die kleinen Kinder. Es iſt wahr, daß zu Homeri Zeiten die Lehre von GOtt noch in dicken Finſterniſſen geſte- cket. Die Philoſophen hatten ſich noch nicht auf die Unter- ſuchung der goͤttlichen Natur geleget, und von einer Offen- barung wuſte man nichts. Was uns alſo ſehr unwahr- ſcheinlich vorkommt, konnte damahls dem Volcke ſehr wahr- ſcheinlich klingen. Dem ungeachtet haͤtte doch Homerus die Gottheiten nicht ſo veraͤchtlich abbilden ſollen, als er ge- than. Man hielt ſie zwar groͤſtentheils vor geweſene Men- ſchen, aber doch vor ſolche, die vergoͤttert, das iſt in einen voll- kommnern Zuſtand verſetzet worden. Dieſes haͤtte alſo aus ihren Beſchreibungen erhellen muͤſſen, damit man deſtomehr Ehrerbietung vor ihnen bey ſich empfunden haͤtte. Da die- ſes nun der Poet nicht gethan, ſo ſind einige auf die Gedan- cken gekommen, er habe mit Fleiß die Goͤtter ſo laͤcherlich be- ſchrieben, um die ernſthafften Thaten ſeiner Helden, mit was luſtigem abzuwechſeln, und alſo dem Eckel ſeiner Leſer zuvorzukommen. Kommen wir auf ſeine Helden, ſo hat man auch da vieles eine
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Das VI. Capitel
ger als die unvollkommenſten Menſchen geſchildert hat. Sie
ſind wie Menſchen gebohren, verheyrathen ſich wie Men-
ſchen, und vermehren ihre Geſchlechter wie Menſchen.
Sie ſind allen unſern Leidenſchafften, Kranckheiten, ja gar
der Gefahr des Todes unterworfen. Sie werden verwun-
det, vergießen Blut, und haben ſogar einen Balbier noͤthig.
Sie zancken ſich, drohen einander Schlaͤge, und verſpotten
ſich wie die kleinen Kinder. Es iſt wahr, daß zu Homeri
Zeiten die Lehre von GOtt noch in dicken Finſterniſſen geſte-
cket. Die Philoſophen hatten ſich noch nicht auf die Unter-
ſuchung der goͤttlichen Natur geleget, und von einer Offen-
barung wuſte man nichts. Was uns alſo ſehr unwahr-
ſcheinlich vorkommt, konnte damahls dem Volcke ſehr wahr-
ſcheinlich klingen. Dem ungeachtet haͤtte doch Homerus
die Gottheiten nicht ſo veraͤchtlich abbilden ſollen, als er ge-
than. Man hielt ſie zwar groͤſtentheils vor geweſene Men-
ſchen, aber doch vor ſolche, die vergoͤttert, das iſt in einen voll-
kommnern Zuſtand verſetzet worden. Dieſes haͤtte alſo aus
ihren Beſchreibungen erhellen muͤſſen, damit man deſtomehr
Ehrerbietung vor ihnen bey ſich empfunden haͤtte. Da die-
ſes nun der Poet nicht gethan, ſo ſind einige auf die Gedan-
cken gekommen, er habe mit Fleiß die Goͤtter ſo laͤcherlich be-
ſchrieben, um die ernſthafften Thaten ſeiner Helden, mit
was luſtigem abzuwechſeln, und alſo dem Eckel ſeiner Leſer
zuvorzukommen.
Kommen wir auf ſeine Helden, ſo hat man auch da vieles
bemercket, was wieder die Wahrſcheinlichkeit laͤuft. Etliche
rechnen das Hauptwerck des gantzen Gedichtes, nehmlich
den Trojaniſchen Krieg hieher, und meynen es ſey ungereimt
zu glauben, daß ſich zwey tapfere Voͤlcker um eines ſchoͤnen
Weibes willen zehn Jahre lang die Koͤpfe zerſchmeißen wuͤr-
den. Allein dieſes geſchieht ohne Grund. Es hatte ſich in
dieſen Krieg der Ehrgeitz und die Rachgier mit eingemeiſchet.
Die Griechen wollten ſtaͤrcker als die Trojaner, und dieſe
tapferer als jene ſeyn; und die Prinzeſſin Helena kam faſt
gar daruͤber ins Vergeſſen. Andre koͤnnen es nicht ver-
dauen, wenn der große Held Achilles ſeinen Gaͤſten ſelbſt
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