Haupt- und Staatsaction solcher Oper-Marionetten spie- len sehen.
Die oben erzehlten Exempel des Wunderbaren habe ich aus den berühmtesten Heldengedichten und Trauerspielen gezogen. Man darf aber nicht dencken, diese Gattungen der Gedichte wären allein der Sitz des Wunderbaren in der Poesie. Denn ob sie gleich hauptsächlich zu ihrer Absicht haben, die Leser und Zuschauer durch die Bewunderung und das Schrecken zu erbauen; so ist doch deswegen das Lustspiel mit den übrigen Arten der Gedichte davon nicht ausgeschlos- sen. Auch hier kan man das Seltene, das Ungemeine dem andern vorziehen, und seine Gedichte dadurch beliebt machen. Nur die Natur und Vernunft muß wie allenthalben, also auch hier nicht aus den Augen gesetzet werden. Z. E. Wenn ich in einer Comödie einen Geitzhals vorstelle, so muß ich freylich keinen mittelmäßigen Geitz abbilden, den noch viele vor eine Sparsamkeit ansehen könnten; sondern ich muß al- les zusammen suchen, was ich an verschiedenen kargen Leu- ten bemercket habe, und aus diesen Stücken einen vollkom- menen Geitzhals zusammen setzen: wie jener Mahler aus den vier schönsten Frauenzimmern einer gantzen Stadt die Schönheiten abmerckte, die er einer Minerva zu geben wil- lens war. Jch könnte also meinen Geitzhals das Gold von den Pillen schaben, und alles übrige thun lassen, was Canitz in seiner Satire vom Harpax gesaget. Da wäre noch alles wahrscheinlich, so seltsam es auch ist, und so wunderbar es aussehen würde. Aber wenn ich den Harpax so mißtrauisch vorstellete, daß er seinen Bedienten, die von ihm giengen, alle- zeit die Hände und Taschen besuchte, ehe er sie herausließe; ja ihm wohl gar nach Aufweisung beyder Hände die Worte in den Mund legte: Ey die dritte Hand? Das dünckt mich, hieße das Wunderbare in diesem Laster aufs höchste treiben, und ein jeder würde dieses zwar vor einen leichtferti- gen Einfall des Poeten, aber vor kein wahres Nachbild der Natur ansehen.
So gehts auch in dem Affecte der Liebe, des Zornes, der Traurigkeit u. s. w. Das Wunderbare muß noch allezeit
in
Von dem Wunderbaren in der Poeſie.
Haupt- und Staatsaction ſolcher Oper-Marionetten ſpie- len ſehen.
Die oben erzehlten Exempel des Wunderbaren habe ich aus den beruͤhmteſten Heldengedichten und Trauerſpielen gezogen. Man darf aber nicht dencken, dieſe Gattungen der Gedichte waͤren allein der Sitz des Wunderbaren in der Poeſie. Denn ob ſie gleich hauptſaͤchlich zu ihrer Abſicht haben, die Leſer und Zuſchauer durch die Bewunderung und das Schrecken zu erbauen; ſo iſt doch deswegen das Luſtſpiel mit den uͤbrigen Arten der Gedichte davon nicht ausgeſchloſ- ſen. Auch hier kan man das Seltene, das Ungemeine dem andern vorziehen, und ſeine Gedichte dadurch beliebt machen. Nur die Natur und Vernunft muß wie allenthalben, alſo auch hier nicht aus den Augen geſetzet werden. Z. E. Wenn ich in einer Comoͤdie einen Geitzhals vorſtelle, ſo muß ich freylich keinen mittelmaͤßigen Geitz abbilden, den noch viele vor eine Sparſamkeit anſehen koͤnnten; ſondern ich muß al- les zuſammen ſuchen, was ich an verſchiedenen kargen Leu- ten bemercket habe, und aus dieſen Stuͤcken einen vollkom- menen Geitzhals zuſammen ſetzen: wie jener Mahler aus den vier ſchoͤnſten Frauenzimmern einer gantzen Stadt die Schoͤnheiten abmerckte, die er einer Minerva zu geben wil- lens war. Jch koͤnnte alſo meinen Geitzhals das Gold von den Pillen ſchaben, und alles uͤbrige thun laſſen, was Canitz in ſeiner Satire vom Harpax geſaget. Da waͤre noch alles wahrſcheinlich, ſo ſeltſam es auch iſt, und ſo wunderbar es ausſehen wuͤrde. Aber wenn ich den Harpax ſo mißtrauiſch vorſtellete, daß er ſeinen Bedienten, die von ihm giengen, alle- zeit die Haͤnde und Taſchen beſuchte, ehe er ſie herausließe; ja ihm wohl gar nach Aufweiſung beyder Haͤnde die Worte in den Mund legte: Ey die dritte Hand? Das duͤnckt mich, hieße das Wunderbare in dieſem Laſter aufs hoͤchſte treiben, und ein jeder wuͤrde dieſes zwar vor einen leichtferti- gen Einfall des Poeten, aber vor kein wahres Nachbild der Natur anſehen.
So gehts auch in dem Affecte der Liebe, des Zornes, der Traurigkeit u. ſ. w. Das Wunderbare muß noch allezeit
in
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0185"n="157"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Von dem Wunderbaren in der Poeſie.</hi></fw><lb/>
Haupt- und Staatsaction ſolcher Oper-Marionetten ſpie-<lb/>
len ſehen.</p><lb/><p>Die oben erzehlten Exempel des Wunderbaren habe ich<lb/>
aus den beruͤhmteſten Heldengedichten und Trauerſpielen<lb/>
gezogen. Man darf aber nicht dencken, dieſe Gattungen<lb/>
der Gedichte waͤren allein der Sitz des Wunderbaren in der<lb/>
Poeſie. Denn ob ſie gleich hauptſaͤchlich zu ihrer Abſicht<lb/>
haben, die Leſer und Zuſchauer durch die Bewunderung und<lb/>
das Schrecken zu erbauen; ſo iſt doch deswegen das Luſtſpiel<lb/>
mit den uͤbrigen Arten der Gedichte davon nicht ausgeſchloſ-<lb/>ſen. Auch hier kan man das Seltene, das Ungemeine dem<lb/>
andern vorziehen, und ſeine Gedichte dadurch beliebt machen.<lb/>
Nur die Natur und Vernunft muß wie allenthalben, alſo<lb/>
auch hier nicht aus den Augen geſetzet werden. Z. E. Wenn<lb/>
ich in einer Comoͤdie einen Geitzhals vorſtelle, ſo muß ich<lb/>
freylich keinen mittelmaͤßigen Geitz abbilden, den noch viele<lb/>
vor eine Sparſamkeit anſehen koͤnnten; ſondern ich muß al-<lb/>
les zuſammen ſuchen, was ich an verſchiedenen kargen Leu-<lb/>
ten bemercket habe, und aus dieſen Stuͤcken einen vollkom-<lb/>
menen Geitzhals zuſammen ſetzen: wie jener Mahler aus<lb/>
den vier ſchoͤnſten Frauenzimmern einer gantzen Stadt die<lb/>
Schoͤnheiten abmerckte, die er einer Minerva zu geben wil-<lb/>
lens war. Jch koͤnnte alſo meinen Geitzhals das Gold von<lb/>
den Pillen ſchaben, und alles uͤbrige thun laſſen, was Canitz<lb/>
in ſeiner Satire vom Harpax geſaget. Da waͤre noch alles<lb/>
wahrſcheinlich, ſo ſeltſam es auch iſt, und ſo wunderbar es<lb/>
ausſehen wuͤrde. Aber wenn ich den Harpax ſo mißtrauiſch<lb/>
vorſtellete, daß er ſeinen Bedienten, die von ihm giengen, alle-<lb/>
zeit die Haͤnde und Taſchen beſuchte, ehe er ſie herausließe;<lb/>
ja ihm wohl gar nach Aufweiſung beyder Haͤnde die Worte<lb/>
in den Mund legte: <hirendition="#fr">Ey die dritte Hand?</hi> Das duͤnckt<lb/>
mich, hieße das Wunderbare in dieſem Laſter aufs hoͤchſte<lb/>
treiben, und ein jeder wuͤrde dieſes zwar vor einen leichtferti-<lb/>
gen Einfall des Poeten, aber vor kein wahres Nachbild der<lb/>
Natur anſehen.</p><lb/><p>So gehts auch in dem Affecte der Liebe, des Zornes, der<lb/>
Traurigkeit u. ſ. w. Das Wunderbare muß noch allezeit<lb/><fwplace="bottom"type="catch">in</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[157/0185]
Von dem Wunderbaren in der Poeſie.
Haupt- und Staatsaction ſolcher Oper-Marionetten ſpie-
len ſehen.
Die oben erzehlten Exempel des Wunderbaren habe ich
aus den beruͤhmteſten Heldengedichten und Trauerſpielen
gezogen. Man darf aber nicht dencken, dieſe Gattungen
der Gedichte waͤren allein der Sitz des Wunderbaren in der
Poeſie. Denn ob ſie gleich hauptſaͤchlich zu ihrer Abſicht
haben, die Leſer und Zuſchauer durch die Bewunderung und
das Schrecken zu erbauen; ſo iſt doch deswegen das Luſtſpiel
mit den uͤbrigen Arten der Gedichte davon nicht ausgeſchloſ-
ſen. Auch hier kan man das Seltene, das Ungemeine dem
andern vorziehen, und ſeine Gedichte dadurch beliebt machen.
Nur die Natur und Vernunft muß wie allenthalben, alſo
auch hier nicht aus den Augen geſetzet werden. Z. E. Wenn
ich in einer Comoͤdie einen Geitzhals vorſtelle, ſo muß ich
freylich keinen mittelmaͤßigen Geitz abbilden, den noch viele
vor eine Sparſamkeit anſehen koͤnnten; ſondern ich muß al-
les zuſammen ſuchen, was ich an verſchiedenen kargen Leu-
ten bemercket habe, und aus dieſen Stuͤcken einen vollkom-
menen Geitzhals zuſammen ſetzen: wie jener Mahler aus
den vier ſchoͤnſten Frauenzimmern einer gantzen Stadt die
Schoͤnheiten abmerckte, die er einer Minerva zu geben wil-
lens war. Jch koͤnnte alſo meinen Geitzhals das Gold von
den Pillen ſchaben, und alles uͤbrige thun laſſen, was Canitz
in ſeiner Satire vom Harpax geſaget. Da waͤre noch alles
wahrſcheinlich, ſo ſeltſam es auch iſt, und ſo wunderbar es
ausſehen wuͤrde. Aber wenn ich den Harpax ſo mißtrauiſch
vorſtellete, daß er ſeinen Bedienten, die von ihm giengen, alle-
zeit die Haͤnde und Taſchen beſuchte, ehe er ſie herausließe;
ja ihm wohl gar nach Aufweiſung beyder Haͤnde die Worte
in den Mund legte: Ey die dritte Hand? Das duͤnckt
mich, hieße das Wunderbare in dieſem Laſter aufs hoͤchſte
treiben, und ein jeder wuͤrde dieſes zwar vor einen leichtferti-
gen Einfall des Poeten, aber vor kein wahres Nachbild der
Natur anſehen.
So gehts auch in dem Affecte der Liebe, des Zornes, der
Traurigkeit u. ſ. w. Das Wunderbare muß noch allezeit
in
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/185>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.