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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das V. Capitel
in den Schrancken der Natur bleiben und nicht zu hoch stei-
gen. Was ist gemeiner als daß man in Romanen,
Schauspielen und andern verliebten Gedichten die Buhler
so rasend abbildet, daß sie sich alle Augenblick hengen, erste-
chen und ersäufen wollen? Was ist aber auch ausschweifen-
der als dieses? Daher es denn gekommen, daß diese Art des
eingebildeten Wunderbaren schon längst lächerlich geworden
und nur der Poesie zum Schimpf gediehen. Das Seltsa-
me in allen Arten muß noch natürlich und glaublich bleiben,
wenn es die Bewunderung, nicht aber ein Gelächter erwe-
cken soll. Die Traurigkeit wird ebenfalls auf solche Art
ausschweifend, wenn der Poet nicht stets die Natur vor Au-
gen hat. Es ist so schwer einen hohen Grad derselben poe-
tisch vorzustellen, als abzumahlen. Da nun Timantes die
Klugheit gebraucht, bey dem Opfer der Jphigenia den Va-
ter dieser Prinzessin mit verhangenem Gesichte zu mahlen;
so muß sich ein Dichter dieses zur Lehre dienen lassen. Aus
Furcht den Schmertz eines außerordentlich Betrübten un-
natürlich zu machen, muß er ihn lieber durch eine geschickte
Verhelung, durch ein gäntzliches Stillschweigen und Ver-
stummen ausdrücken. Des Herrn von Bessers Schmertz
über seine Kühleweinin ist mir allezeit gar zu geschwätzig vor-
gekommen, und es scheint mir nicht glaublich, daß ein ausser-
ordentliches Leid so viel auserlesene Redner-Künste leiden
könne. Er erschöpfet seine gantze Einbildungs-Krafft seinen
Jammer auszudrücken; und das Unglaublichste ist dabey,
daß er diese seine Klage zu der Zeit gehalten habe, da er eben
die Leichen-Procession auf der Gasse gesehen, wie ausdrück-
lich darinne steht. Gieng er denn irgend nicht mit zu Grabe?
Oder hatte er auf der Gasse Zeit sie so sinnreich zu beklagen?
Der Affect hat bey dem Verluste einer ungemeinen Ehgat-
tin, ungemein und wunderbar seyn sollen: Er ist aber un-
glaublich geworden. Besser hat als ein künstlicher Poet,
nicht als ein trostloser Wittwer geweinet.

Jch will hiermit diesen gantzen Ausdruck der Traurig-
keit nicht verwerfen; Es ist so viel schönes darinn als in ir-
gend einem Klaggedichte, so wir haben. Wer aber eine

recht

Das V. Capitel
in den Schrancken der Natur bleiben und nicht zu hoch ſtei-
gen. Was iſt gemeiner als daß man in Romanen,
Schauſpielen und andern verliebten Gedichten die Buhler
ſo raſend abbildet, daß ſie ſich alle Augenblick hengen, erſte-
chen und erſaͤufen wollen? Was iſt aber auch ausſchweifen-
der als dieſes? Daher es denn gekommen, daß dieſe Art des
eingebildeten Wunderbaren ſchon laͤngſt laͤcherlich geworden
und nur der Poeſie zum Schimpf gediehen. Das Seltſa-
me in allen Arten muß noch natuͤrlich und glaublich bleiben,
wenn es die Bewunderung, nicht aber ein Gelaͤchter erwe-
cken ſoll. Die Traurigkeit wird ebenfalls auf ſolche Art
ausſchweifend, wenn der Poet nicht ſtets die Natur vor Au-
gen hat. Es iſt ſo ſchwer einen hohen Grad derſelben poe-
tiſch vorzuſtellen, als abzumahlen. Da nun Timantes die
Klugheit gebraucht, bey dem Opfer der Jphigenia den Va-
ter dieſer Prinzeſſin mit verhangenem Geſichte zu mahlen;
ſo muß ſich ein Dichter dieſes zur Lehre dienen laſſen. Aus
Furcht den Schmertz eines außerordentlich Betruͤbten un-
natuͤrlich zu machen, muß er ihn lieber durch eine geſchickte
Verhelung, durch ein gaͤntzliches Stillſchweigen und Ver-
ſtummen ausdruͤcken. Des Herrn von Beſſers Schmertz
uͤber ſeine Kuͤhleweinin iſt mir allezeit gar zu geſchwaͤtzig vor-
gekommen, und es ſcheint mir nicht glaublich, daß ein auſſer-
ordentliches Leid ſo viel auserleſene Redner-Kuͤnſte leiden
koͤnne. Er erſchoͤpfet ſeine gantze Einbildungs-Krafft ſeinen
Jammer auszudruͤcken; und das Unglaublichſte iſt dabey,
daß er dieſe ſeine Klage zu der Zeit gehalten habe, da er eben
die Leichen-Proceſſion auf der Gaſſe geſehen, wie ausdruͤck-
lich darinne ſteht. Gieng er denn irgend nicht mit zu Grabe?
Oder hatte er auf der Gaſſe Zeit ſie ſo ſinnreich zu beklagen?
Der Affect hat bey dem Verluſte einer ungemeinen Ehgat-
tin, ungemein und wunderbar ſeyn ſollen: Er iſt aber un-
glaublich geworden. Beſſer hat als ein kuͤnſtlicher Poet,
nicht als ein troſtloſer Wittwer geweinet.

Jch will hiermit dieſen gantzen Ausdruck der Traurig-
keit nicht verwerfen; Es iſt ſo viel ſchoͤnes darinn als in ir-
gend einem Klaggedichte, ſo wir haben. Wer aber eine

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[158/0186] Das V. Capitel in den Schrancken der Natur bleiben und nicht zu hoch ſtei- gen. Was iſt gemeiner als daß man in Romanen, Schauſpielen und andern verliebten Gedichten die Buhler ſo raſend abbildet, daß ſie ſich alle Augenblick hengen, erſte- chen und erſaͤufen wollen? Was iſt aber auch ausſchweifen- der als dieſes? Daher es denn gekommen, daß dieſe Art des eingebildeten Wunderbaren ſchon laͤngſt laͤcherlich geworden und nur der Poeſie zum Schimpf gediehen. Das Seltſa- me in allen Arten muß noch natuͤrlich und glaublich bleiben, wenn es die Bewunderung, nicht aber ein Gelaͤchter erwe- cken ſoll. Die Traurigkeit wird ebenfalls auf ſolche Art ausſchweifend, wenn der Poet nicht ſtets die Natur vor Au- gen hat. Es iſt ſo ſchwer einen hohen Grad derſelben poe- tiſch vorzuſtellen, als abzumahlen. Da nun Timantes die Klugheit gebraucht, bey dem Opfer der Jphigenia den Va- ter dieſer Prinzeſſin mit verhangenem Geſichte zu mahlen; ſo muß ſich ein Dichter dieſes zur Lehre dienen laſſen. Aus Furcht den Schmertz eines außerordentlich Betruͤbten un- natuͤrlich zu machen, muß er ihn lieber durch eine geſchickte Verhelung, durch ein gaͤntzliches Stillſchweigen und Ver- ſtummen ausdruͤcken. Des Herrn von Beſſers Schmertz uͤber ſeine Kuͤhleweinin iſt mir allezeit gar zu geſchwaͤtzig vor- gekommen, und es ſcheint mir nicht glaublich, daß ein auſſer- ordentliches Leid ſo viel auserleſene Redner-Kuͤnſte leiden koͤnne. Er erſchoͤpfet ſeine gantze Einbildungs-Krafft ſeinen Jammer auszudruͤcken; und das Unglaublichſte iſt dabey, daß er dieſe ſeine Klage zu der Zeit gehalten habe, da er eben die Leichen-Proceſſion auf der Gaſſe geſehen, wie ausdruͤck- lich darinne ſteht. Gieng er denn irgend nicht mit zu Grabe? Oder hatte er auf der Gaſſe Zeit ſie ſo ſinnreich zu beklagen? Der Affect hat bey dem Verluſte einer ungemeinen Ehgat- tin, ungemein und wunderbar ſeyn ſollen: Er iſt aber un- glaublich geworden. Beſſer hat als ein kuͤnſtlicher Poet, nicht als ein troſtloſer Wittwer geweinet. Jch will hiermit dieſen gantzen Ausdruck der Traurig- keit nicht verwerfen; Es iſt ſo viel ſchoͤnes darinn als in ir- gend einem Klaggedichte, ſo wir haben. Wer aber eine recht

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/186>, abgerufen am 24.04.2024.