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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das V. Capitel
lobwürdige Muster zur Nachfolge, diese aber als schändliche
Ungeheuer zum Abscheue vor. Eine mittelmäßige Tugend
rühret die Gemüther nicht sehr. Ein jeder hält sich selbst dazu
fähig, und also machen dergleichen wahre oder erdichtete
Exempel wenig Eindruck, wenn gleich sonst alle poetische
Künste in Beschreibung oder Vorstellung derselben ange-
wandt wären. Mit den Lastern gehts eben so. Daher
sucht sich ein kluger Poet lauter ungemeine Helden und Hel-
dinnen, lauter unmenschliche Tyrannen und verdammliche
Bösewichter aus, seine Kunst daran zu zeigen. Ein Achil-
les mit seinem unauslöschlichen Zorne; Ein Ulysses und seine
unüberwindliche Standhafftigkeit; Ein Eneas und seine
ausnehmende Frömmigkeit; Ein Oedipus in seinen ab-
scheulichen und unerhörten Lastern; Eine Medea in ihrer
unmenschlichen Raserey; Ein August mit seiner ausseror-
dentlichen Gnade gegen einen rebellischen Cinna; Eine un-
vergleichliche Chimene mit ihrem tapfern Roderich, u. d. m.
Das sind Menschen und Thaten die wunderbar sind, und
ohne alle Beyhülfe andrer Seltsamkeiten die Leser oder Zu-
schauer eines Gedichtes entzücken können. Die Geschichte
sind voll von solchen Helden und Handlungen, und ein ver-
ständiger Poet kan leicht Nahmen finden, treffliche Bilder
großer Tugenden und Laster zu entwerfen; wenn er nur mo-
ralische Einsicht genug besitzet, dieselben recht zu bilden.
Weil aber seichte Geister und ungelehrte Versmacher dazu
nicht fähig sind, daher kommt es, daß man uns anstatt des
wahrhafftig Wunderbaren mit dem falschen aufhält; an-
statt vernünftiger Tragödien, ungereimte Opern voller Ma-
schinen und Zaubereyen schreibet, die der Natur, und wah-
ren Hoheit der Poesie zuweilen nicht ähnlicher sind, als die
geputzten Marionetten, lebendigen Menschen. Solche
Puppenwercke werden auch von Kindern und Unverständi-
gen als erstaunenswürdige Meisterstücke bewundert und im
Werthe gehalten. Vernünftige Leute aber können sie
ohne Eckel und Gelächter nicht erblicken und würden lie-
ber eine Dorfschencke voll besoffener Bauren in ihrer natür-
lichen Art handeln und reden, als eine unvernünftige

Haupt-

Das V. Capitel
lobwuͤrdige Muſter zur Nachfolge, dieſe aber als ſchaͤndliche
Ungeheuer zum Abſcheue vor. Eine mittelmaͤßige Tugend
ruͤhret die Gemuͤther nicht ſehr. Ein jeder haͤlt ſich ſelbſt dazu
faͤhig, und alſo machen dergleichen wahre oder erdichtete
Exempel wenig Eindruck, wenn gleich ſonſt alle poetiſche
Kuͤnſte in Beſchreibung oder Vorſtellung derſelben ange-
wandt waͤren. Mit den Laſtern gehts eben ſo. Daher
ſucht ſich ein kluger Poet lauter ungemeine Helden und Hel-
dinnen, lauter unmenſchliche Tyrannen und verdammliche
Boͤſewichter aus, ſeine Kunſt daran zu zeigen. Ein Achil-
les mit ſeinem unausloͤſchlichen Zorne; Ein Ulyſſes und ſeine
unuͤberwindliche Standhafftigkeit; Ein Eneas und ſeine
ausnehmende Froͤmmigkeit; Ein Oedipus in ſeinen ab-
ſcheulichen und unerhoͤrten Laſtern; Eine Medea in ihrer
unmenſchlichen Raſerey; Ein Auguſt mit ſeiner auſſeror-
dentlichen Gnade gegen einen rebelliſchen Cinna; Eine un-
vergleichliche Chimene mit ihrem tapfern Roderich, u. d. m.
Das ſind Menſchen und Thaten die wunderbar ſind, und
ohne alle Beyhuͤlfe andrer Seltſamkeiten die Leſer oder Zu-
ſchauer eines Gedichtes entzuͤcken koͤnnen. Die Geſchichte
ſind voll von ſolchen Helden und Handlungen, und ein ver-
ſtaͤndiger Poet kan leicht Nahmen finden, treffliche Bilder
großer Tugenden und Laſter zu entwerfen; wenn er nur mo-
raliſche Einſicht genug beſitzet, dieſelben recht zu bilden.
Weil aber ſeichte Geiſter und ungelehrte Versmacher dazu
nicht faͤhig ſind, daher kommt es, daß man uns anſtatt des
wahrhafftig Wunderbaren mit dem falſchen aufhaͤlt; an-
ſtatt vernuͤnftiger Tragoͤdien, ungereimte Opern voller Ma-
ſchinen und Zaubereyen ſchreibet, die der Natur, und wah-
ren Hoheit der Poeſie zuweilen nicht aͤhnlicher ſind, als die
geputzten Marionetten, lebendigen Menſchen. Solche
Puppenwercke werden auch von Kindern und Unverſtaͤndi-
gen als erſtaunenswuͤrdige Meiſterſtuͤcke bewundert und im
Werthe gehalten. Vernuͤnftige Leute aber koͤnnen ſie
ohne Eckel und Gelaͤchter nicht erblicken und wuͤrden lie-
ber eine Dorfſchencke voll beſoffener Bauren in ihrer natuͤr-
lichen Art handeln und reden, als eine unvernuͤnftige

Haupt-
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[156/0184] Das V. Capitel lobwuͤrdige Muſter zur Nachfolge, dieſe aber als ſchaͤndliche Ungeheuer zum Abſcheue vor. Eine mittelmaͤßige Tugend ruͤhret die Gemuͤther nicht ſehr. Ein jeder haͤlt ſich ſelbſt dazu faͤhig, und alſo machen dergleichen wahre oder erdichtete Exempel wenig Eindruck, wenn gleich ſonſt alle poetiſche Kuͤnſte in Beſchreibung oder Vorſtellung derſelben ange- wandt waͤren. Mit den Laſtern gehts eben ſo. Daher ſucht ſich ein kluger Poet lauter ungemeine Helden und Hel- dinnen, lauter unmenſchliche Tyrannen und verdammliche Boͤſewichter aus, ſeine Kunſt daran zu zeigen. Ein Achil- les mit ſeinem unausloͤſchlichen Zorne; Ein Ulyſſes und ſeine unuͤberwindliche Standhafftigkeit; Ein Eneas und ſeine ausnehmende Froͤmmigkeit; Ein Oedipus in ſeinen ab- ſcheulichen und unerhoͤrten Laſtern; Eine Medea in ihrer unmenſchlichen Raſerey; Ein Auguſt mit ſeiner auſſeror- dentlichen Gnade gegen einen rebelliſchen Cinna; Eine un- vergleichliche Chimene mit ihrem tapfern Roderich, u. d. m. Das ſind Menſchen und Thaten die wunderbar ſind, und ohne alle Beyhuͤlfe andrer Seltſamkeiten die Leſer oder Zu- ſchauer eines Gedichtes entzuͤcken koͤnnen. Die Geſchichte ſind voll von ſolchen Helden und Handlungen, und ein ver- ſtaͤndiger Poet kan leicht Nahmen finden, treffliche Bilder großer Tugenden und Laſter zu entwerfen; wenn er nur mo- raliſche Einſicht genug beſitzet, dieſelben recht zu bilden. Weil aber ſeichte Geiſter und ungelehrte Versmacher dazu nicht faͤhig ſind, daher kommt es, daß man uns anſtatt des wahrhafftig Wunderbaren mit dem falſchen aufhaͤlt; an- ſtatt vernuͤnftiger Tragoͤdien, ungereimte Opern voller Ma- ſchinen und Zaubereyen ſchreibet, die der Natur, und wah- ren Hoheit der Poeſie zuweilen nicht aͤhnlicher ſind, als die geputzten Marionetten, lebendigen Menſchen. Solche Puppenwercke werden auch von Kindern und Unverſtaͤndi- gen als erſtaunenswuͤrdige Meiſterſtuͤcke bewundert und im Werthe gehalten. Vernuͤnftige Leute aber koͤnnen ſie ohne Eckel und Gelaͤchter nicht erblicken und wuͤrden lie- ber eine Dorfſchencke voll beſoffener Bauren in ihrer natuͤr- lichen Art handeln und reden, als eine unvernuͤnftige Haupt-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/184>, abgerufen am 28.03.2024.