Verfasser Cervantes sehr viel dazu beygetragen, daß die abentheuerlichen Fabeln aus Ritterbüchern und Romanen allmählich abgeschaffet, oder doch weit behutsamer als vor- mahls geschehen, eingerichtet worden.
Jn Theatralischen Gedichten findet das Wunderbare, so von Göttern herrühret, auch statt. Es erscheinet zuwei- len eine Gottheit auf der Bühne, zuweilen verrichtet sie ein Wunderwerck, diesen oder jenen Helden aus Noth zu helfen. Bald wird was prophezeyhet, bald gezaubert, alles dieses gehört zum Wunderbaren der Schaubühne. Daß die Heyden in ihren Schauspielen sich zuweilen vermischter Fa- beln bedienet, darinnen so wohl Götter als Menschen vor- kommen, das ist ihnen gar nicht zu verdencken. Homerus war gleichsam ihre Bibel, und darinnen stunden sehr viel Er- scheinungen der Götter beschrieben, die in alten Zeiten ge- schehen seyn sollten. Es war also ihrer Theologie eben so wohl gemäß dieselben zu glauben, als der Unsrigen, daß im alten Testamente den Gläubigen vielmahls Engel erschienen sind. Wer bey uns von Adam und Eva, von Loth, von Abraham und Jacob, von David, Nebucadnezar, Da- niel und Tobias Schauspiele machte, würde eher getadelt werden, wenn er die Engel wegließe, als wenn er sie bey- brächte. Das erste Welt-Alter hat bey allen Völckern das Vorrecht, daß man ihm gern viel wunderbares zuschreibet; ja was man itzo seinen eigenen Augen nicht glauben würde, das düncket den meisten sehr möglich und wahrscheinlich, wenn es nur vor drey oder vier tausend Jahren geschehen seyn soll. Es habens derowegen auch die Griechen und Römer schon beobachtet, daß sie zwar diejenigen Fabeln ihrer Schauspiele, so aus den ältesten Zeiten hergenommen sind, mit einigen göttlichen Erscheinungen und Wundern ausge- schmücket: aber in denen so sie aus neuern Zeiten entlehnet, sich derselben aufs sorgfältigste enthalten haben. Daher hat auch Horatz die Regel gemacht:
Nec Deus intersit, nisi dignus vindice nodus Inciderit.
Jn der That erfordert es nicht viel Verstand alle Augenblick
einen
Das V. Capitel
Verfaſſer Cervantes ſehr viel dazu beygetragen, daß die abentheuerlichen Fabeln aus Ritterbuͤchern und Romanen allmaͤhlich abgeſchaffet, oder doch weit behutſamer als vor- mahls geſchehen, eingerichtet worden.
Jn Theatraliſchen Gedichten findet das Wunderbare, ſo von Goͤttern herruͤhret, auch ſtatt. Es erſcheinet zuwei- len eine Gottheit auf der Buͤhne, zuweilen verrichtet ſie ein Wunderwerck, dieſen oder jenen Helden aus Noth zu helfen. Bald wird was prophezeyhet, bald gezaubert, alles dieſes gehoͤrt zum Wunderbaren der Schaubuͤhne. Daß die Heyden in ihren Schauſpielen ſich zuweilen vermiſchter Fa- beln bedienet, darinnen ſo wohl Goͤtter als Menſchen vor- kommen, das iſt ihnen gar nicht zu verdencken. Homerus war gleichſam ihre Bibel, und darinnen ſtunden ſehr viel Er- ſcheinungen der Goͤtter beſchrieben, die in alten Zeiten ge- ſchehen ſeyn ſollten. Es war alſo ihrer Theologie eben ſo wohl gemaͤß dieſelben zu glauben, als der Unſrigen, daß im alten Teſtamente den Glaͤubigen vielmahls Engel erſchienen ſind. Wer bey uns von Adam und Eva, von Loth, von Abraham und Jacob, von David, Nebucadnezar, Da- niel und Tobias Schauſpiele machte, wuͤrde eher getadelt werden, wenn er die Engel wegließe, als wenn er ſie bey- braͤchte. Das erſte Welt-Alter hat bey allen Voͤlckern das Vorrecht, daß man ihm gern viel wunderbares zuſchreibet; ja was man itzo ſeinen eigenen Augen nicht glauben wuͤrde, das duͤncket den meiſten ſehr moͤglich und wahrſcheinlich, wenn es nur vor drey oder vier tauſend Jahren geſchehen ſeyn ſoll. Es habens derowegen auch die Griechen und Roͤmer ſchon beobachtet, daß ſie zwar diejenigen Fabeln ihrer Schauſpiele, ſo aus den aͤlteſten Zeiten hergenommen ſind, mit einigen goͤttlichen Erſcheinungen und Wundern ausge- ſchmuͤcket: aber in denen ſo ſie aus neuern Zeiten entlehnet, ſich derſelben aufs ſorgfaͤltigſte enthalten haben. Daher hat auch Horatz die Regel gemacht:
Nec Deus interſit, niſi dignus vindice nodus Inciderit.
Jn der That erfordert es nicht viel Verſtand alle Augenblick
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Das V. Capitel
Verfaſſer Cervantes ſehr viel dazu beygetragen, daß die
abentheuerlichen Fabeln aus Ritterbuͤchern und Romanen
allmaͤhlich abgeſchaffet, oder doch weit behutſamer als vor-
mahls geſchehen, eingerichtet worden.
Jn Theatraliſchen Gedichten findet das Wunderbare,
ſo von Goͤttern herruͤhret, auch ſtatt. Es erſcheinet zuwei-
len eine Gottheit auf der Buͤhne, zuweilen verrichtet ſie ein
Wunderwerck, dieſen oder jenen Helden aus Noth zu helfen.
Bald wird was prophezeyhet, bald gezaubert, alles dieſes
gehoͤrt zum Wunderbaren der Schaubuͤhne. Daß die
Heyden in ihren Schauſpielen ſich zuweilen vermiſchter Fa-
beln bedienet, darinnen ſo wohl Goͤtter als Menſchen vor-
kommen, das iſt ihnen gar nicht zu verdencken. Homerus
war gleichſam ihre Bibel, und darinnen ſtunden ſehr viel Er-
ſcheinungen der Goͤtter beſchrieben, die in alten Zeiten ge-
ſchehen ſeyn ſollten. Es war alſo ihrer Theologie eben ſo
wohl gemaͤß dieſelben zu glauben, als der Unſrigen, daß im
alten Teſtamente den Glaͤubigen vielmahls Engel erſchienen
ſind. Wer bey uns von Adam und Eva, von Loth, von
Abraham und Jacob, von David, Nebucadnezar, Da-
niel und Tobias Schauſpiele machte, wuͤrde eher getadelt
werden, wenn er die Engel wegließe, als wenn er ſie bey-
braͤchte. Das erſte Welt-Alter hat bey allen Voͤlckern das
Vorrecht, daß man ihm gern viel wunderbares zuſchreibet;
ja was man itzo ſeinen eigenen Augen nicht glauben wuͤrde,
das duͤncket den meiſten ſehr moͤglich und wahrſcheinlich,
wenn es nur vor drey oder vier tauſend Jahren geſchehen ſeyn
ſoll. Es habens derowegen auch die Griechen und Roͤmer
ſchon beobachtet, daß ſie zwar diejenigen Fabeln ihrer
Schauſpiele, ſo aus den aͤlteſten Zeiten hergenommen ſind,
mit einigen goͤttlichen Erſcheinungen und Wundern ausge-
ſchmuͤcket: aber in denen ſo ſie aus neuern Zeiten entlehnet,
ſich derſelben aufs ſorgfaͤltigſte enthalten haben. Daher
hat auch Horatz die Regel gemacht:
Nec Deus interſit, niſi dignus vindice nodus
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/180>, abgerufen am 21.11.2024.
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