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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Wunderbaren in der Poesie.
einen Gott vom Himmel kommen zu lassen, um dem Schau-
spiele auszuhelfen, wenn es wiederwärtig ablaufen will, wo
nicht ein höherer Beystand dazu kommt. Das heist meh-
rentheils den Knoten zerschneiden, aber nicht auflösen. Und
darinn verstoßen gemeiniglich unsre Opernschreiber. Weil
sie ihre Schauspiele gern so wunderbar machen wollen als es
möglich ist, so dencken sie fleißig auf Maschinen, das ist auf
göttliche Erscheinungen, Verwandlungen, und andre poeti-
sche Seltenheiten, so die Augen des Pöbels blenden. Und
weil sich dieselben nicht in alle Fabeln schicken wollen, so wer-
den sie mit den Haaren dazu gezogen; damit nur ja was vom
Himmel herunter komme, wie man zu reden pflegt. Wenn
nun ihre Stücke noch aus der ältesten heydnischen Fabel her-
genommen sind, darinn solche Erscheinungen längst das
Bürgerrecht erhalten haben: so kan man ihnen ihre Wun-
dersachen noch gelten lassen; dafern sie nur der obigen Regel
Horatii nachkommen, und nicht ohne Noth die Götter be-
mühen, auch nicht in allen Opern die Maschinen vor unent-
behrlich halten wollten.

Eben das kan von den Zaubereyen und bösen Geistern
gesagt werden. Auch ein seichter Geist ist geschickt, einen
Hexenmeister auf die Schaubühne zu stellen, der einen Zau-
berseegen nach dem andern hermurmelt, einen Astrologischen
Ring mit Characteren verkauft, diesen unsichtbar, jenen
unbeweglich, einen andern unkenntlich macht; ja wohl gar
ein halb dutzend junge Teufel herzubannet. Das Mähr-
chen von D. Faust hat lange genug den Pöbel belustiget, und
man hat ziemlicher maßen aufgehört solche Alfanzereyen gern
anzusehen. Daher muß denn ein Poet große Behutsamkeit
gebrauchen, daß er nicht unglaubliche Dinge aufs Theater
bringe, vielweniger sichtbar vorstelle. Horatz hat dieses
auch längst verboten, wenn er will, daß man die Progne nicht
in einen Vogel, den Cadmus nicht in eine Schlange ver-
wandeln solle, imgleichen daß niemand auf der Schaubühne
einer Hexe das aufgefressene Kind lebendig wieder aus dem
Leibe solle ziehen lassen. Das wäre eben so viel, als wenn
ich Bileams Eselin redend einführen, oder den Edelmann

vor
K 5

Von dem Wunderbaren in der Poeſie.
einen Gott vom Himmel kommen zu laſſen, um dem Schau-
ſpiele auszuhelfen, wenn es wiederwaͤrtig ablaufen will, wo
nicht ein hoͤherer Beyſtand dazu kommt. Das heiſt meh-
rentheils den Knoten zerſchneiden, aber nicht aufloͤſen. Und
darinn verſtoßen gemeiniglich unſre Opernſchreiber. Weil
ſie ihre Schauſpiele gern ſo wunderbar machen wollen als es
moͤglich iſt, ſo dencken ſie fleißig auf Maſchinen, das iſt auf
goͤttliche Erſcheinungen, Verwandlungen, und andre poeti-
ſche Seltenheiten, ſo die Augen des Poͤbels blenden. Und
weil ſich dieſelben nicht in alle Fabeln ſchicken wollen, ſo wer-
den ſie mit den Haaren dazu gezogen; damit nur ja was vom
Himmel herunter komme, wie man zu reden pflegt. Wenn
nun ihre Stuͤcke noch aus der aͤlteſten heydniſchen Fabel her-
genommen ſind, darinn ſolche Erſcheinungen laͤngſt das
Buͤrgerrecht erhalten haben: ſo kan man ihnen ihre Wun-
derſachen noch gelten laſſen; dafern ſie nur der obigen Regel
Horatii nachkommen, und nicht ohne Noth die Goͤtter be-
muͤhen, auch nicht in allen Opern die Maſchinen vor unent-
behrlich halten wollten.

Eben das kan von den Zaubereyen und boͤſen Geiſtern
geſagt werden. Auch ein ſeichter Geiſt iſt geſchickt, einen
Hexenmeiſter auf die Schaubuͤhne zu ſtellen, der einen Zau-
berſeegen nach dem andern hermurmelt, einen Aſtrologiſchen
Ring mit Characteren verkauft, dieſen unſichtbar, jenen
unbeweglich, einen andern unkenntlich macht; ja wohl gar
ein halb dutzend junge Teufel herzubannet. Das Maͤhr-
chen von D. Fauſt hat lange genug den Poͤbel beluſtiget, und
man hat ziemlicher maßen aufgehoͤrt ſolche Alfanzereyen gern
anzuſehen. Daher muß denn ein Poet große Behutſamkeit
gebrauchen, daß er nicht unglaubliche Dinge aufs Theater
bringe, vielweniger ſichtbar vorſtelle. Horatz hat dieſes
auch laͤngſt verboten, wenn er will, daß man die Progne nicht
in einen Vogel, den Cadmus nicht in eine Schlange ver-
wandeln ſolle, imgleichen daß niemand auf der Schaubuͤhne
einer Hexe das aufgefreſſene Kind lebendig wieder aus dem
Leibe ſolle ziehen laſſen. Das waͤre eben ſo viel, als wenn
ich Bileams Eſelin redend einfuͤhren, oder den Edelmann

vor
K 5
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[153/0181] Von dem Wunderbaren in der Poeſie. einen Gott vom Himmel kommen zu laſſen, um dem Schau- ſpiele auszuhelfen, wenn es wiederwaͤrtig ablaufen will, wo nicht ein hoͤherer Beyſtand dazu kommt. Das heiſt meh- rentheils den Knoten zerſchneiden, aber nicht aufloͤſen. Und darinn verſtoßen gemeiniglich unſre Opernſchreiber. Weil ſie ihre Schauſpiele gern ſo wunderbar machen wollen als es moͤglich iſt, ſo dencken ſie fleißig auf Maſchinen, das iſt auf goͤttliche Erſcheinungen, Verwandlungen, und andre poeti- ſche Seltenheiten, ſo die Augen des Poͤbels blenden. Und weil ſich dieſelben nicht in alle Fabeln ſchicken wollen, ſo wer- den ſie mit den Haaren dazu gezogen; damit nur ja was vom Himmel herunter komme, wie man zu reden pflegt. Wenn nun ihre Stuͤcke noch aus der aͤlteſten heydniſchen Fabel her- genommen ſind, darinn ſolche Erſcheinungen laͤngſt das Buͤrgerrecht erhalten haben: ſo kan man ihnen ihre Wun- derſachen noch gelten laſſen; dafern ſie nur der obigen Regel Horatii nachkommen, und nicht ohne Noth die Goͤtter be- muͤhen, auch nicht in allen Opern die Maſchinen vor unent- behrlich halten wollten. Eben das kan von den Zaubereyen und boͤſen Geiſtern geſagt werden. Auch ein ſeichter Geiſt iſt geſchickt, einen Hexenmeiſter auf die Schaubuͤhne zu ſtellen, der einen Zau- berſeegen nach dem andern hermurmelt, einen Aſtrologiſchen Ring mit Characteren verkauft, dieſen unſichtbar, jenen unbeweglich, einen andern unkenntlich macht; ja wohl gar ein halb dutzend junge Teufel herzubannet. Das Maͤhr- chen von D. Fauſt hat lange genug den Poͤbel beluſtiget, und man hat ziemlicher maßen aufgehoͤrt ſolche Alfanzereyen gern anzuſehen. Daher muß denn ein Poet große Behutſamkeit gebrauchen, daß er nicht unglaubliche Dinge aufs Theater bringe, vielweniger ſichtbar vorſtelle. Horatz hat dieſes auch laͤngſt verboten, wenn er will, daß man die Progne nicht in einen Vogel, den Cadmus nicht in eine Schlange ver- wandeln ſolle, imgleichen daß niemand auf der Schaubuͤhne einer Hexe das aufgefreſſene Kind lebendig wieder aus dem Leibe ſolle ziehen laſſen. Das waͤre eben ſo viel, als wenn ich Bileams Eſelin redend einfuͤhren, oder den Edelmann vor K 5

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/181>, abgerufen am 24.11.2024.