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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Wunderbaren in der Poesie.
kommen die vielfältigen Zauber-Historien, die in so vielen
Ritterbüchern und Romanen, ja selbst im Tasso und andern
seinen Landesleuten vorfallen. Die Meynungen der Critic-
verständigen sind hiervon sehr uneins: Es ist gewiß, daß man
diese Leute mit der herrschenden Meynung ihrer abergläubi-
schen Zeiten eben sowohl entschuldigen kan, als die alten Poe-
ten, wegen der Fabeln von ihren Göttern, in Betrachtung
der heydnischen Theologie, entschuldiget werden. Aber es
ist auch eben so unleugbar, daß es besser sey, sich solcher Arten
des Wunderbaren zu bedienen, die allen Zeiten und Orten
gemein sind und bleiben. Wer kan sich itzo des Lachens ent-
halten, wenn Tasso in seinem IV Buch den Teufel mit sol-
chen Hörnern, dagegen alle Berge und Felsen nur wie kleine
Hügel zu rechnen sind, ja gar mit einem langen Schwantze
abmahlet, und ohne Maaß und Ziel allerley Zaubereyen von
ihm und seinem Anhange geschehen lassen. Wer merckt die
Ausschweifung nicht, wenn des Raimunds Schutz-Engel
im VIIden Buche aus der himmlischen Rüst-Kammer einen
Diamantnen Schild, von solcher Breite holet, daß er vom
Caucasus, biß an den Atlas alle Länder und Meere damit be-
decken könnte. Dieses Wunderbare ist viel zu abgeschmackt
vor unsre Zeiten, und würde kaum Kindern ohne Lachen er-
zehlet werden können. Eben dahin rechne ich die Zauberey
die Voltaire in seine Henriade gebracht, dadurch ein Jüdi-
discher Hexen-Meister der Königin, Heinrich den vierdten,
als den künftigen Reichsfolger ihres Sohnes herbannen
muß. Und dieses mit desto größerm Rechte, weil eben dieser
Poet in seinem Discours vom Heldengedichte den be-
rühmten Milton deswegen getadelt: da er sich doch eben
dieses Fehlers nothwendig bewust seyn muste; wie der Eng-
lische Criticus, der sein Gedichte geprüfet, gar wohl erin-
nert hat. Ein heutiger Poet hat also große Ursache in der-
gleichen Wunderdingen sparsam zu seyn. Die Welt ist
nunmehro viel aufgeklärter, und nichts ist ein größeres Zei-
chen der Einfalt, als wenn man, wie ein andrer Don Qui-
xote, alles was geschieht, zu Zaubereyen machet. Jch geden-
cke dieses trefflichen Buches mit Fleiß allhier; weil dessen

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K 4

Von dem Wunderbaren in der Poeſie.
kommen die vielfaͤltigen Zauber-Hiſtorien, die in ſo vielen
Ritterbuͤchern und Romanen, ja ſelbſt im Taſſo und andern
ſeinen Landesleuten vorfallen. Die Meynungen der Critic-
verſtaͤndigen ſind hiervon ſehr uneins: Es iſt gewiß, daß man
dieſe Leute mit der herrſchenden Meynung ihrer aberglaͤubi-
ſchen Zeiten eben ſowohl entſchuldigen kan, als die alten Poe-
ten, wegen der Fabeln von ihren Goͤttern, in Betrachtung
der heydniſchen Theologie, entſchuldiget werden. Aber es
iſt auch eben ſo unleugbar, daß es beſſer ſey, ſich ſolcher Arten
des Wunderbaren zu bedienen, die allen Zeiten und Orten
gemein ſind und bleiben. Wer kan ſich itzo des Lachens ent-
halten, wenn Taſſo in ſeinem IV Buch den Teufel mit ſol-
chen Hoͤrnern, dagegen alle Berge und Felſen nur wie kleine
Huͤgel zu rechnen ſind, ja gar mit einem langen Schwantze
abmahlet, und ohne Maaß und Ziel allerley Zaubereyen von
ihm und ſeinem Anhange geſchehen laſſen. Wer merckt die
Ausſchweifung nicht, wenn des Raimunds Schutz-Engel
im VIIden Buche aus der himmliſchen Ruͤſt-Kammer einen
Diamantnen Schild, von ſolcher Breite holet, daß er vom
Caucaſus, biß an den Atlas alle Laͤnder und Meere damit be-
decken koͤnnte. Dieſes Wunderbare iſt viel zu abgeſchmackt
vor unſre Zeiten, und wuͤrde kaum Kindern ohne Lachen er-
zehlet werden koͤnnen. Eben dahin rechne ich die Zauberey
die Voltaire in ſeine Henriade gebracht, dadurch ein Juͤdi-
diſcher Hexen-Meiſter der Koͤnigin, Heinrich den vierdten,
als den kuͤnftigen Reichsfolger ihres Sohnes herbannen
muß. Und dieſes mit deſto groͤßerm Rechte, weil eben dieſer
Poet in ſeinem Diſcours vom Heldengedichte den be-
ruͤhmten Milton deswegen getadelt: da er ſich doch eben
dieſes Fehlers nothwendig bewuſt ſeyn muſte; wie der Eng-
liſche Criticus, der ſein Gedichte gepruͤfet, gar wohl erin-
nert hat. Ein heutiger Poet hat alſo große Urſache in der-
gleichen Wunderdingen ſparſam zu ſeyn. Die Welt iſt
nunmehro viel aufgeklaͤrter, und nichts iſt ein groͤßeres Zei-
chen der Einfalt, als wenn man, wie ein andrer Don Qui-
xote, alles was geſchieht, zu Zaubereyen machet. Jch geden-
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[151/0179] Von dem Wunderbaren in der Poeſie. kommen die vielfaͤltigen Zauber-Hiſtorien, die in ſo vielen Ritterbuͤchern und Romanen, ja ſelbſt im Taſſo und andern ſeinen Landesleuten vorfallen. Die Meynungen der Critic- verſtaͤndigen ſind hiervon ſehr uneins: Es iſt gewiß, daß man dieſe Leute mit der herrſchenden Meynung ihrer aberglaͤubi- ſchen Zeiten eben ſowohl entſchuldigen kan, als die alten Poe- ten, wegen der Fabeln von ihren Goͤttern, in Betrachtung der heydniſchen Theologie, entſchuldiget werden. Aber es iſt auch eben ſo unleugbar, daß es beſſer ſey, ſich ſolcher Arten des Wunderbaren zu bedienen, die allen Zeiten und Orten gemein ſind und bleiben. Wer kan ſich itzo des Lachens ent- halten, wenn Taſſo in ſeinem IV Buch den Teufel mit ſol- chen Hoͤrnern, dagegen alle Berge und Felſen nur wie kleine Huͤgel zu rechnen ſind, ja gar mit einem langen Schwantze abmahlet, und ohne Maaß und Ziel allerley Zaubereyen von ihm und ſeinem Anhange geſchehen laſſen. Wer merckt die Ausſchweifung nicht, wenn des Raimunds Schutz-Engel im VIIden Buche aus der himmliſchen Ruͤſt-Kammer einen Diamantnen Schild, von ſolcher Breite holet, daß er vom Caucaſus, biß an den Atlas alle Laͤnder und Meere damit be- decken koͤnnte. Dieſes Wunderbare iſt viel zu abgeſchmackt vor unſre Zeiten, und wuͤrde kaum Kindern ohne Lachen er- zehlet werden koͤnnen. Eben dahin rechne ich die Zauberey die Voltaire in ſeine Henriade gebracht, dadurch ein Juͤdi- diſcher Hexen-Meiſter der Koͤnigin, Heinrich den vierdten, als den kuͤnftigen Reichsfolger ihres Sohnes herbannen muß. Und dieſes mit deſto groͤßerm Rechte, weil eben dieſer Poet in ſeinem Diſcours vom Heldengedichte den be- ruͤhmten Milton deswegen getadelt: da er ſich doch eben dieſes Fehlers nothwendig bewuſt ſeyn muſte; wie der Eng- liſche Criticus, der ſein Gedichte gepruͤfet, gar wohl erin- nert hat. Ein heutiger Poet hat alſo große Urſache in der- gleichen Wunderdingen ſparſam zu ſeyn. Die Welt iſt nunmehro viel aufgeklaͤrter, und nichts iſt ein groͤßeres Zei- chen der Einfalt, als wenn man, wie ein andrer Don Qui- xote, alles was geſchieht, zu Zaubereyen machet. Jch geden- cke dieſes trefflichen Buches mit Fleiß allhier; weil deſſen Ver- K 4

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/179>, abgerufen am 21.11.2024.