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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das V Capitel
Göttinnen der Weisheit oder der Wissenschafften; sondern
der Poesie, der Music und der Geschichte, mit einem Worte,
der freyen Künste. Man muß also von ihnen nichts fordern
als was ihnen zugehört. Die Vernunftschlüsse gehören vor
die weise Pallas, der Feldbau vor die Feldgötter, als Sonn
und Mond, Bachus und Ceres, die Faunen und Nymphen,
den Pan und Neptun, die Minerva und den Silvan u. s. w.
Alle diese ruft Virgil in seinen Georgicis zu Hülfe: ja er setzt
endlich noch gar den Cäsar dazu, als der vielleicht auch nach
seinem Tode ein Feldgott werden könnte. Lucretius, wie
ich bereits oben gedacht, hat auch die Göttin Venus, als die
Vorsteherin der Erzeugung angeruffen; welches beyden, als
Dichtern nicht übel genommen werden kan. Horatz hat in
der XI Ode des III Buches den Mercur als einen Gott der
Beredsamkeit um seinen Beystand angeruffen, als er ein
recht bewegliches und hertzrührendes Liebeslied machen woll-
te. Dieses scheint der Form nach unrecht zu seyn, weil Mer-
cur weder Verße noch Liebeslieder machen kan. Allein dem
Jnnhalte nach geht es doch an. Denn zu geschweigen, daß
derselbe die Music versteht und dazu singt, wie Horatius an-
führt: so ist er ja ein Gott der Beredsamkeit, der ihm alle
die Vorstellungen und Bewegungsgründe eingeben konnte,
die er nöthig hatte, das Gemüth seiner geliebten Lyde zu ge-
winnen. Den Fehler aber kan ich nicht entschuldigen, wenn
Virgilius im IVten Buche seines Georgischen Gedichtes
schreibt:

Quis Deus hanc, Musae, quis nobis extudit artem,
Vnde noua ingressus hominum experientia coepit?

Was bekümmern sich die Musen um die Bienenzucht? Und
wie konnte sich der Poet einbilden, die Göttinnen der freyen
Künste würden die Kunstgriffe des Feldlebens herzuzehlen
wissen? Pan und Ceres möchten ihm davon Nachricht ge-
geben haben. Vielweniger aber kan folgendes gelten, aus
der III Ecloga.

Pierides, vitulam lectori pascite vestro.

Denn wie kan mans immermehr den Musen zumuthen, den

Heli-

Das V Capitel
Goͤttinnen der Weisheit oder der Wiſſenſchafften; ſondern
der Poeſie, der Muſic und der Geſchichte, mit einem Worte,
der freyen Kuͤnſte. Man muß alſo von ihnen nichts fordern
als was ihnen zugehoͤrt. Die Vernunftſchluͤſſe gehoͤren vor
die weiſe Pallas, der Feldbau vor die Feldgoͤtter, als Sonn
und Mond, Bachus und Ceres, die Faunen und Nymphen,
den Pan und Neptun, die Minerva und den Silvan u. ſ. w.
Alle dieſe ruft Virgil in ſeinen Georgicis zu Huͤlfe: ja er ſetzt
endlich noch gar den Caͤſar dazu, als der vielleicht auch nach
ſeinem Tode ein Feldgott werden koͤnnte. Lucretius, wie
ich bereits oben gedacht, hat auch die Goͤttin Venus, als die
Vorſteherin der Erzeugung angeruffen; welches beyden, als
Dichtern nicht uͤbel genommen werden kan. Horatz hat in
der XI Ode des III Buches den Mercur als einen Gott der
Beredſamkeit um ſeinen Beyſtand angeruffen, als er ein
recht bewegliches und hertzruͤhrendes Liebeslied machen woll-
te. Dieſes ſcheint der Form nach unrecht zu ſeyn, weil Mer-
cur weder Verße noch Liebeslieder machen kan. Allein dem
Jnnhalte nach geht es doch an. Denn zu geſchweigen, daß
derſelbe die Muſic verſteht und dazu ſingt, wie Horatius an-
fuͤhrt: ſo iſt er ja ein Gott der Beredſamkeit, der ihm alle
die Vorſtellungen und Bewegungsgruͤnde eingeben konnte,
die er noͤthig hatte, das Gemuͤth ſeiner geliebten Lyde zu ge-
winnen. Den Fehler aber kan ich nicht entſchuldigen, wenn
Virgilius im IVten Buche ſeines Georgiſchen Gedichtes
ſchreibt:

Quis Deus hanc, Muſae, quis nobis extudit artem,
Vnde noua ingreſſus hominum experientia coepit?

Was bekuͤmmern ſich die Muſen um die Bienenzucht? Und
wie konnte ſich der Poet einbilden, die Goͤttinnen der freyen
Kuͤnſte wuͤrden die Kunſtgriffe des Feldlebens herzuzehlen
wiſſen? Pan und Ceres moͤchten ihm davon Nachricht ge-
geben haben. Vielweniger aber kan folgendes gelten, aus
der III Ecloga.

Pierides, vitulam lectori paſcite veſtro.

Denn wie kan mans immermehr den Muſen zumuthen, den

Heli-
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[148/0176] Das V Capitel Goͤttinnen der Weisheit oder der Wiſſenſchafften; ſondern der Poeſie, der Muſic und der Geſchichte, mit einem Worte, der freyen Kuͤnſte. Man muß alſo von ihnen nichts fordern als was ihnen zugehoͤrt. Die Vernunftſchluͤſſe gehoͤren vor die weiſe Pallas, der Feldbau vor die Feldgoͤtter, als Sonn und Mond, Bachus und Ceres, die Faunen und Nymphen, den Pan und Neptun, die Minerva und den Silvan u. ſ. w. Alle dieſe ruft Virgil in ſeinen Georgicis zu Huͤlfe: ja er ſetzt endlich noch gar den Caͤſar dazu, als der vielleicht auch nach ſeinem Tode ein Feldgott werden koͤnnte. Lucretius, wie ich bereits oben gedacht, hat auch die Goͤttin Venus, als die Vorſteherin der Erzeugung angeruffen; welches beyden, als Dichtern nicht uͤbel genommen werden kan. Horatz hat in der XI Ode des III Buches den Mercur als einen Gott der Beredſamkeit um ſeinen Beyſtand angeruffen, als er ein recht bewegliches und hertzruͤhrendes Liebeslied machen woll- te. Dieſes ſcheint der Form nach unrecht zu ſeyn, weil Mer- cur weder Verße noch Liebeslieder machen kan. Allein dem Jnnhalte nach geht es doch an. Denn zu geſchweigen, daß derſelbe die Muſic verſteht und dazu ſingt, wie Horatius an- fuͤhrt: ſo iſt er ja ein Gott der Beredſamkeit, der ihm alle die Vorſtellungen und Bewegungsgruͤnde eingeben konnte, die er noͤthig hatte, das Gemuͤth ſeiner geliebten Lyde zu ge- winnen. Den Fehler aber kan ich nicht entſchuldigen, wenn Virgilius im IVten Buche ſeines Georgiſchen Gedichtes ſchreibt: Quis Deus hanc, Muſae, quis nobis extudit artem, Vnde noua ingreſſus hominum experientia coepit? Was bekuͤmmern ſich die Muſen um die Bienenzucht? Und wie konnte ſich der Poet einbilden, die Goͤttinnen der freyen Kuͤnſte wuͤrden die Kunſtgriffe des Feldlebens herzuzehlen wiſſen? Pan und Ceres moͤchten ihm davon Nachricht ge- geben haben. Vielweniger aber kan folgendes gelten, aus der III Ecloga. Pierides, vitulam lectori paſcite veſtro. Denn wie kan mans immermehr den Muſen zumuthen, den Heli-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/176>, abgerufen am 21.11.2024.