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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Wunderbaren in der Poesie.
Cum primum ausoniis exercitus depulit oris,
Expediam, & primae reuocabo exordia pugnae.

Und bald darauf in eben dem Buche:

Pandite nunc Helicona, Deae, cantusque mouete,
Qui bello exciti Reges, quae quemque secutae
Complerint acies; quibus Itala iam tum
Floruerit terra alma viris, quibus arserit armis:
Et meministis enim Diuae, & memorare potestis;
Ad nos vix tenuis famae perlabitur aura.

Jm IXten Buche ruft er die Calliope ins besondre an; wie
vorhin die Erato.

Vos o Calliope precor, aspirate canenti,
Quas ibi tunc ferro strages, quae funera Turnus
Ediderit; quem quisque virum demiserit orco.
Et mecum ingentes oras euoluite belli,
Et meministis enim Diuae, & memorare potestis.

Und abermahl bey solcher Gelegenheit in demselben Buche:

Quis Deus, o Musae, tam saeua incendia Teucris
Avertit? Tantos ratibus quis depulit ignes?
Dicite. Prisca fides facto, sed fama perennis.

Was die dogmatischen Sachen anlangt, so wird wohl
freylich in ungebundner Schreibart niemand den Bey-
stand der Musen anruffen; wo er nicht eben so unge-
reimt handeln will als Valerius Maximus, der im Anfange
seiner zusammengestoppelten Histörchen den Kayser Tiberius,
als eine Gottheit anrufft, ihm in seiner Arbeit beyzustehen;
die doch so leicht war, daß sie keines Beystandes bedorfte:
Oder als Varro, der ein Buch vom Ackerbau schreibet, und
im Anfange desselben die Feldgötter anruffet ihm zu helfen;
da er doch solches von sich selbst schon ausführen konnte. Al-
lein was in poetischer Schreibart von dogmatischen Dingen
ausgearbeitet worden, als des Aratus Gedichte von der
Stern-Wissenschafft, Lucretii Bücher von der Naturlehre,
Virgils Bücher vom Feldbaue u. d. g. da fragt sichs, ob
man die Musen oder sonst eine Gottheit anruffen solle; im
Falle das Werck so groß und so wohl geschrieben ist, daß
man Ursache dazu hat. Uberhaupt sind die Musen nicht

Göt-
K 2
Von dem Wunderbaren in der Poeſie.
Cum primum auſoniis exercitus depulit oris,
Expediam, & primae reuocabo exordia pugnae.

Und bald darauf in eben dem Buche:

Pandite nunc Helicona, Deae, cantusque mouete,
Qui bello exciti Reges, quae quemque ſecutae
Complerint acies; quibus Itala iam tum
Floruerit terra alma viris, quibus arſerit armis:
Et meminiſtis enim Diuae, & memorare poteſtis;
Ad nos vix tenuis famae perlabitur aura.

Jm IXten Buche ruft er die Calliope ins beſondre an; wie
vorhin die Erato.

Vos o Calliope precor, aſpirate canenti,
Quas ibi tunc ferro ſtrages, quae funera Turnus
Ediderit; quem quisque virum demiſerit orco.
Et mecum ingentes oras euoluite belli,
Et meminiſtis enim Diuae, & memorare poteſtis.

Und abermahl bey ſolcher Gelegenheit in demſelben Buche:

Quis Deus, o Muſae, tam ſaeua incendia Teucris
Avertit? Tantos ratibus quis depulit ignes?
Dicite. Priſca fides facto, ſed fama perennis.

Was die dogmatiſchen Sachen anlangt, ſo wird wohl
freylich in ungebundner Schreibart niemand den Bey-
ſtand der Muſen anruffen; wo er nicht eben ſo unge-
reimt handeln will als Valerius Maximus, der im Anfange
ſeiner zuſammengeſtoppelten Hiſtoͤrchen den Kayſer Tiberius,
als eine Gottheit anrufft, ihm in ſeiner Arbeit beyzuſtehen;
die doch ſo leicht war, daß ſie keines Beyſtandes bedorfte:
Oder als Varro, der ein Buch vom Ackerbau ſchreibet, und
im Anfange deſſelben die Feldgoͤtter anruffet ihm zu helfen;
da er doch ſolches von ſich ſelbſt ſchon ausfuͤhren konnte. Al-
lein was in poetiſcher Schreibart von dogmatiſchen Dingen
ausgearbeitet worden, als des Aratus Gedichte von der
Stern-Wiſſenſchafft, Lucretii Buͤcher von der Naturlehre,
Virgils Buͤcher vom Feldbaue u. d. g. da fragt ſichs, ob
man die Muſen oder ſonſt eine Gottheit anruffen ſolle; im
Falle das Werck ſo groß und ſo wohl geſchrieben iſt, daß
man Urſache dazu hat. Uberhaupt ſind die Muſen nicht

Goͤt-
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[147/0175] Von dem Wunderbaren in der Poeſie. Cum primum auſoniis exercitus depulit oris, Expediam, & primae reuocabo exordia pugnae. Und bald darauf in eben dem Buche: Pandite nunc Helicona, Deae, cantusque mouete, Qui bello exciti Reges, quae quemque ſecutae Complerint acies; quibus Itala iam tum Floruerit terra alma viris, quibus arſerit armis: Et meminiſtis enim Diuae, & memorare poteſtis; Ad nos vix tenuis famae perlabitur aura. Jm IXten Buche ruft er die Calliope ins beſondre an; wie vorhin die Erato. Vos o Calliope precor, aſpirate canenti, Quas ibi tunc ferro ſtrages, quae funera Turnus Ediderit; quem quisque virum demiſerit orco. Et mecum ingentes oras euoluite belli, Et meminiſtis enim Diuae, & memorare poteſtis. Und abermahl bey ſolcher Gelegenheit in demſelben Buche: Quis Deus, o Muſae, tam ſaeua incendia Teucris Avertit? Tantos ratibus quis depulit ignes? Dicite. Priſca fides facto, ſed fama perennis. Was die dogmatiſchen Sachen anlangt, ſo wird wohl freylich in ungebundner Schreibart niemand den Bey- ſtand der Muſen anruffen; wo er nicht eben ſo unge- reimt handeln will als Valerius Maximus, der im Anfange ſeiner zuſammengeſtoppelten Hiſtoͤrchen den Kayſer Tiberius, als eine Gottheit anrufft, ihm in ſeiner Arbeit beyzuſtehen; die doch ſo leicht war, daß ſie keines Beyſtandes bedorfte: Oder als Varro, der ein Buch vom Ackerbau ſchreibet, und im Anfange deſſelben die Feldgoͤtter anruffet ihm zu helfen; da er doch ſolches von ſich ſelbſt ſchon ausfuͤhren konnte. Al- lein was in poetiſcher Schreibart von dogmatiſchen Dingen ausgearbeitet worden, als des Aratus Gedichte von der Stern-Wiſſenſchafft, Lucretii Buͤcher von der Naturlehre, Virgils Buͤcher vom Feldbaue u. d. g. da fragt ſichs, ob man die Muſen oder ſonſt eine Gottheit anruffen ſolle; im Falle das Werck ſo groß und ſo wohl geſchrieben iſt, daß man Urſache dazu hat. Uberhaupt ſind die Muſen nicht Goͤt- K 2

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/175>, abgerufen am 21.11.2024.