Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Das V. Capitel gen sey. Die Spuren davon findet man auch überall in denPoeten, zu geschweigen daß Clio ins besondre der Historie vorgesetzet worden. Man muß nur dabey bemercken, daß die Musen sich nicht um gemeine und überall bekannte Din- ge anruffen lassen, die man auch ohne ihre Hülfe wissen kan. Es würde ungereimt seyn, wenn ich sie ersuchte mir die Tha- ten Alexanders oder Cäsars zu offenbaren, davon alle Bü- cher voll sind. Es müssen verborgene, und gantz ins Ver- gessen gerathene Dinge seyn, dabey man sich ihren Beystand ausbittet. So machts Homerus am Ende des ersten Bu- ches in seiner Jlias. Er bittet die Musen, ihm alle die Ar- meen und ihre Heerführer zu entdecken, die sich bey Troja versammlet, welche damahls gewiß kein Mensch mehr zu nennen wuste. Freylich hat er sie selbst nach der Wahr- scheinlichkeit erdichtet: Aber seine Erzehlung würde nicht so viel Glauben gefunden haben, wenn er nicht gethan hätte, als ob ihm die Musen solches eingegeben. Denn man hätte gleich gefragt, woher er alle die Nachrichten hätte? Eben so hats Virgilius gemacht. Er will gleich im An-
Darauf fängt er an Dinge zu erzehlen, die unter den Göt-
Cum
Das V. Capitel gen ſey. Die Spuren davon findet man auch uͤberall in denPoeten, zu geſchweigen daß Clio ins beſondre der Hiſtorie vorgeſetzet worden. Man muß nur dabey bemercken, daß die Muſen ſich nicht um gemeine und uͤberall bekannte Din- ge anruffen laſſen, die man auch ohne ihre Huͤlfe wiſſen kan. Es wuͤrde ungereimt ſeyn, wenn ich ſie erſuchte mir die Tha- ten Alexanders oder Caͤſars zu offenbaren, davon alle Buͤ- cher voll ſind. Es muͤſſen verborgene, und gantz ins Ver- geſſen gerathene Dinge ſeyn, dabey man ſich ihren Beyſtand ausbittet. So machts Homerus am Ende des erſten Bu- ches in ſeiner Jlias. Er bittet die Muſen, ihm alle die Ar- meen und ihre Heerfuͤhrer zu entdecken, die ſich bey Troja verſammlet, welche damahls gewiß kein Menſch mehr zu nennen wuſte. Freylich hat er ſie ſelbſt nach der Wahr- ſcheinlichkeit erdichtet: Aber ſeine Erzehlung wuͤrde nicht ſo viel Glauben gefunden haben, wenn er nicht gethan haͤtte, als ob ihm die Muſen ſolches eingegeben. Denn man haͤtte gleich gefragt, woher er alle die Nachrichten haͤtte? Eben ſo hats Virgilius gemacht. Er will gleich im An-
Darauf faͤngt er an Dinge zu erzehlen, die unter den Goͤt-
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Das V. Capitel
gen ſey. Die Spuren davon findet man auch uͤberall in den
Poeten, zu geſchweigen daß Clio ins beſondre der Hiſtorie
vorgeſetzet worden. Man muß nur dabey bemercken, daß
die Muſen ſich nicht um gemeine und uͤberall bekannte Din-
ge anruffen laſſen, die man auch ohne ihre Huͤlfe wiſſen kan.
Es wuͤrde ungereimt ſeyn, wenn ich ſie erſuchte mir die Tha-
ten Alexanders oder Caͤſars zu offenbaren, davon alle Buͤ-
cher voll ſind. Es muͤſſen verborgene, und gantz ins Ver-
geſſen gerathene Dinge ſeyn, dabey man ſich ihren Beyſtand
ausbittet. So machts Homerus am Ende des erſten Bu-
ches in ſeiner Jlias. Er bittet die Muſen, ihm alle die Ar-
meen und ihre Heerfuͤhrer zu entdecken, die ſich bey Troja
verſammlet, welche damahls gewiß kein Menſch mehr zu
nennen wuſte. Freylich hat er ſie ſelbſt nach der Wahr-
ſcheinlichkeit erdichtet: Aber ſeine Erzehlung wuͤrde nicht ſo
viel Glauben gefunden haben, wenn er nicht gethan haͤtte, als
ob ihm die Muſen ſolches eingegeben. Denn man haͤtte gleich
gefragt, woher er alle die Nachrichten haͤtte?
Eben ſo hats Virgilius gemacht. Er will gleich im An-
fange ſeiner Eneis wiſſen, warum doch Juno ſo erzuͤrnt ge-
weſen, welches gewiß ein bloßer Menſch nicht wiſſen konnte:
Darum ſchreibt er:
Muſa, mihi cauſſas memora, quo numine laeſa,
Quidue dolens regina deum, tot voluere caſus
Inſignem pietate virum, tot adire labores
Impulerit? Tantaene animis caeleſtibus irae?
Darauf faͤngt er an Dinge zu erzehlen, die unter den Goͤt-
tern im Himmel und auf Erden vorgegangen, und die viel-
leicht noch keinem in den Sinn gekommen waren; aber nach
der heydniſchen Theologie nichts unmoͤgliches oder unglaub-
liches in ſich hielten. Eben ſo macht ers an verſchiedenen
Orten mitten im Gedichte, wo er bald eine, bald die andre,
bald alle Muſen zugleich um die Offenbarung gewiſſer Um-
ſtaͤnde aus alten Geſchichten anruffet. Z. E. Aeneid. VII.
Nunc age, qui Reges, Erato, quae tempora rerum,
Quis Latio antiquo fuerit ſtatus, aduena claſſem
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