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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Wunderbahren in der Poesie.
das gienge nicht natürlich zu, daß ein solcher Mensch wie sie
selbst waren, dergleichen ungemeine Dinge aus seinem eige-
nen Kopfe hernehmen könnte. Der Schluß war also rich-
tig: Haben sie es nicht von sich selbst; so hat es ihnen ein hö-
heres Wesen, eine Gottheit, oder eine Muse eingegeben.
Wir finden selbst in der Vertheidigungs-Rede Socratis
beym Plato, daß Socrates von den Poeten sagt, sie pflegten
viele herrliche und schöne Sprüche und Sachen zu sagen:
Doch wären sie daher den Propheten gleich, die auch treffli-
che Dinge sagten, aber selbst dasjenige nicht verstünden, was
sie redeten. Dergestalt könnte wohl sogar dieser Weltweise
die Poeten vor begeisterte Leute gehalten haben. Und war-
um das nicht? Zum wenigsten hat es mit ihren göttlichen
Trieben eben so viel Richtigkeit gehabt, als mit seinem Gei-
ste, der ihn allezeit gewarnet haben soll. Wenn nun die
Poeten diesem gemeinen Wahne zu Folge, fleißig die Musen
anriefen: so klang es in den Ohren des Pöbels recht andäch-
tig, und machte dem Dichter ein gutes Ansehen. Und da-
her mag es vielleicht gekommen seyn, daß sogar Lucretius,
der doch keine Vorsehung oder Wirckung der Götter in der
Welt glaubte, eben das Buch, von der Natur der Dinge,
darinn er diese Lehre vorzutragen willens war, mit einer An-
ruffung der Göttin Venus angefangen.

Wie aber alle Dinge großen Misbräuchen unterwor-
fen sind, so geht es auch mit dem Anruffen der Musen. Die
heydnische Mythologie ist niemahls systematisch vorgetragen
worden, daher ist es leicht geschehen, daß auch die alten
Poeten vielfältig wieder ihr eigen Fabelsystema verstoßen
haben, indem sie die Musen zur Unzeit angeruffen haben.
Man kan an allen Gedichten die Form von der Materie, oder
die äußere Gestalt von dem Jnhalte unterscheiden und hiebey
verschiedene Fehler anmercken, die von den Poeten begangen
worden. Der Form nach ist ein Gedichte entweder groß
oder klein, entweder episch oder dramatisch, entweder in
erhabener Schreibart abgefaßt, oder in einer niedrigen und
gemeinen Art des Ausdruckes geschrieben. Da wird es nun
leicht zu begreifen seyn, daß ein Poet wohl in großen, epischen

und

Von dem Wunderbahren in der Poeſie.
das gienge nicht natuͤrlich zu, daß ein ſolcher Menſch wie ſie
ſelbſt waren, dergleichen ungemeine Dinge aus ſeinem eige-
nen Kopfe hernehmen koͤnnte. Der Schluß war alſo rich-
tig: Haben ſie es nicht von ſich ſelbſt; ſo hat es ihnen ein hoͤ-
heres Weſen, eine Gottheit, oder eine Muſe eingegeben.
Wir finden ſelbſt in der Vertheidigungs-Rede Socratis
beym Plato, daß Socrates von den Poeten ſagt, ſie pflegten
viele herrliche und ſchoͤne Spruͤche und Sachen zu ſagen:
Doch waͤren ſie daher den Propheten gleich, die auch treffli-
che Dinge ſagten, aber ſelbſt dasjenige nicht verſtuͤnden, was
ſie redeten. Dergeſtalt koͤnnte wohl ſogar dieſer Weltweiſe
die Poeten vor begeiſterte Leute gehalten haben. Und war-
um das nicht? Zum wenigſten hat es mit ihren goͤttlichen
Trieben eben ſo viel Richtigkeit gehabt, als mit ſeinem Gei-
ſte, der ihn allezeit gewarnet haben ſoll. Wenn nun die
Poeten dieſem gemeinen Wahne zu Folge, fleißig die Muſen
anriefen: ſo klang es in den Ohren des Poͤbels recht andaͤch-
tig, und machte dem Dichter ein gutes Anſehen. Und da-
her mag es vielleicht gekommen ſeyn, daß ſogar Lucretius,
der doch keine Vorſehung oder Wirckung der Goͤtter in der
Welt glaubte, eben das Buch, von der Natur der Dinge,
darinn er dieſe Lehre vorzutragen willens war, mit einer An-
ruffung der Goͤttin Venus angefangen.

Wie aber alle Dinge großen Misbraͤuchen unterwor-
fen ſind, ſo geht es auch mit dem Anruffen der Muſen. Die
heydniſche Mythologie iſt niemahls ſyſtematiſch vorgetragen
worden, daher iſt es leicht geſchehen, daß auch die alten
Poeten vielfaͤltig wieder ihr eigen Fabelſyſtema verſtoßen
haben, indem ſie die Muſen zur Unzeit angeruffen haben.
Man kan an allen Gedichten die Form von der Materie, oder
die aͤußere Geſtalt von dem Jnhalte unterſcheiden und hiebey
verſchiedene Fehler anmercken, die von den Poeten begangen
worden. Der Form nach iſt ein Gedichte entweder groß
oder klein, entweder epiſch oder dramatiſch, entweder in
erhabener Schreibart abgefaßt, oder in einer niedrigen und
gemeinen Art des Ausdruckes geſchrieben. Da wird es nun
leicht zu begreifen ſeyn, daß ein Poet wohl in großen, epiſchen

und
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[143/0171] Von dem Wunderbahren in der Poeſie. das gienge nicht natuͤrlich zu, daß ein ſolcher Menſch wie ſie ſelbſt waren, dergleichen ungemeine Dinge aus ſeinem eige- nen Kopfe hernehmen koͤnnte. Der Schluß war alſo rich- tig: Haben ſie es nicht von ſich ſelbſt; ſo hat es ihnen ein hoͤ- heres Weſen, eine Gottheit, oder eine Muſe eingegeben. Wir finden ſelbſt in der Vertheidigungs-Rede Socratis beym Plato, daß Socrates von den Poeten ſagt, ſie pflegten viele herrliche und ſchoͤne Spruͤche und Sachen zu ſagen: Doch waͤren ſie daher den Propheten gleich, die auch treffli- che Dinge ſagten, aber ſelbſt dasjenige nicht verſtuͤnden, was ſie redeten. Dergeſtalt koͤnnte wohl ſogar dieſer Weltweiſe die Poeten vor begeiſterte Leute gehalten haben. Und war- um das nicht? Zum wenigſten hat es mit ihren goͤttlichen Trieben eben ſo viel Richtigkeit gehabt, als mit ſeinem Gei- ſte, der ihn allezeit gewarnet haben ſoll. Wenn nun die Poeten dieſem gemeinen Wahne zu Folge, fleißig die Muſen anriefen: ſo klang es in den Ohren des Poͤbels recht andaͤch- tig, und machte dem Dichter ein gutes Anſehen. Und da- her mag es vielleicht gekommen ſeyn, daß ſogar Lucretius, der doch keine Vorſehung oder Wirckung der Goͤtter in der Welt glaubte, eben das Buch, von der Natur der Dinge, darinn er dieſe Lehre vorzutragen willens war, mit einer An- ruffung der Goͤttin Venus angefangen. Wie aber alle Dinge großen Misbraͤuchen unterwor- fen ſind, ſo geht es auch mit dem Anruffen der Muſen. Die heydniſche Mythologie iſt niemahls ſyſtematiſch vorgetragen worden, daher iſt es leicht geſchehen, daß auch die alten Poeten vielfaͤltig wieder ihr eigen Fabelſyſtema verſtoßen haben, indem ſie die Muſen zur Unzeit angeruffen haben. Man kan an allen Gedichten die Form von der Materie, oder die aͤußere Geſtalt von dem Jnhalte unterſcheiden und hiebey verſchiedene Fehler anmercken, die von den Poeten begangen worden. Der Form nach iſt ein Gedichte entweder groß oder klein, entweder epiſch oder dramatiſch, entweder in erhabener Schreibart abgefaßt, oder in einer niedrigen und gemeinen Art des Ausdruckes geſchrieben. Da wird es nun leicht zu begreifen ſeyn, daß ein Poet wohl in großen, epiſchen und

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/171>, abgerufen am 29.03.2024.