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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das V. Capitel
und erhabenen, aber nicht in kleinen, dramatischen und nie-
drigen Gedichten die Musen anruffen müsse. Die Ursache
ist bald zu finden. Die Kräffte eines Menschen von gutem
aufgewecktem Kopfe, langen zur Noth, auch nach der Ein-
fältigsten Geständnis, schon zu, ein Sonnet, Madrigal, eine
Arie, kleine Ode, Satire, ja auch wohl Elegien, Briefe und
Schäfergedichte zu verfertigen. Was ist es also nöthig, in
solchen Kleinigkeiten den göttlichen Beystand der Musen zu
suchen? Virgil scheint dieses nicht allezeit bedacht zu haben,
wenn er in seinen Eclogen gar offt die Musen anrufft, da
doch diese Art von Gedichten so was schweres, und erhabenes
nicht an sich hat. Z. E.

Ecl. IV.
Sicelides Musae, paullo maiora canamus.
Ecl. VIII.
Vos quae responderit Alphesiboeus
Dicite Pierides. Non omnia possumus omnes.
Ecl. X.
Haec sat erit divae, vestrum cecinisse Poetam,
Dum sedet & gracili fiscellam texit hibisco,
Pierides.

Jmgleichen in dem Gedichte vom Ackerbau soll ihm die Muse
was helfen. Geor. IV.

Quis Deus hanc Musae, quis nobis extudit artem,
Vnde nova ingressus hominum experientia coepit.

Horatz ist hierinn viel bescheidner gewesen, weil er wohl un-
zehliche kleine Oden, Briefe und Satiren gemacht, ohne die
Musen ein einzigmahl anzuruffen. Nur wenn er etwas
größeres machen will, dergleichen die IV Ode des III Buches
ist, hebt er an:

Descende coelo, & dic age tibia,
Regina longum Calliope melos.

Hieraus ist leicht zu schließen, daß die heutigen Poeten, die
in allen elenden Hochzeit- und Leichen-Verßen, die Musen
dabey haben wollen, die Hoheit dieser Göttinnen schlecht ver-
stehen, wenn sie sich einbilden, daß sie sich um ihrer elenden
Kleinigkeiten wegen viel bemühen würden. Es würde auch

bey

Das V. Capitel
und erhabenen, aber nicht in kleinen, dramatiſchen und nie-
drigen Gedichten die Muſen anruffen muͤſſe. Die Urſache
iſt bald zu finden. Die Kraͤffte eines Menſchen von gutem
aufgewecktem Kopfe, langen zur Noth, auch nach der Ein-
faͤltigſten Geſtaͤndnis, ſchon zu, ein Sonnet, Madrigal, eine
Arie, kleine Ode, Satire, ja auch wohl Elegien, Briefe und
Schaͤfergedichte zu verfertigen. Was iſt es alſo noͤthig, in
ſolchen Kleinigkeiten den goͤttlichen Beyſtand der Muſen zu
ſuchen? Virgil ſcheint dieſes nicht allezeit bedacht zu haben,
wenn er in ſeinen Eclogen gar offt die Muſen anrufft, da
doch dieſe Art von Gedichten ſo was ſchweres, und erhabenes
nicht an ſich hat. Z. E.

Ecl. IV.
Sicelides Muſae, paullo maiora canamus.
Ecl. VIII.
Vos quae reſponderit Alpheſiboeus
Dicite Pierides. Non omnia poſſumus omnes.
Ecl. X.
Haec ſat erit divae, veſtrum ceciniſſe Poetam,
Dum ſedet & gracili fiſcellam texit hibiſco,
Pierides.

Jmgleichen in dem Gedichte vom Ackerbau ſoll ihm die Muſe
was helfen. Geor. IV.

Quis Deus hanc Muſae, quis nobis extudit artem,
Vnde nova ingreſſus hominum experientia coepit.

Horatz iſt hierinn viel beſcheidner geweſen, weil er wohl un-
zehliche kleine Oden, Briefe und Satiren gemacht, ohne die
Muſen ein einzigmahl anzuruffen. Nur wenn er etwas
groͤßeres machen will, dergleichen die IV Ode des III Buches
iſt, hebt er an:

Deſcende coelo, & dic age tibia,
Regina longum Calliope melos.

Hieraus iſt leicht zu ſchließen, daß die heutigen Poeten, die
in allen elenden Hochzeit- und Leichen-Verßen, die Muſen
dabey haben wollen, die Hoheit dieſer Goͤttinnen ſchlecht ver-
ſtehen, wenn ſie ſich einbilden, daß ſie ſich um ihrer elenden
Kleinigkeiten wegen viel bemuͤhen wuͤrden. Es wuͤrde auch

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[144/0172] Das V. Capitel und erhabenen, aber nicht in kleinen, dramatiſchen und nie- drigen Gedichten die Muſen anruffen muͤſſe. Die Urſache iſt bald zu finden. Die Kraͤffte eines Menſchen von gutem aufgewecktem Kopfe, langen zur Noth, auch nach der Ein- faͤltigſten Geſtaͤndnis, ſchon zu, ein Sonnet, Madrigal, eine Arie, kleine Ode, Satire, ja auch wohl Elegien, Briefe und Schaͤfergedichte zu verfertigen. Was iſt es alſo noͤthig, in ſolchen Kleinigkeiten den goͤttlichen Beyſtand der Muſen zu ſuchen? Virgil ſcheint dieſes nicht allezeit bedacht zu haben, wenn er in ſeinen Eclogen gar offt die Muſen anrufft, da doch dieſe Art von Gedichten ſo was ſchweres, und erhabenes nicht an ſich hat. Z. E. Ecl. IV. Sicelides Muſae, paullo maiora canamus. Ecl. VIII. Vos quae reſponderit Alpheſiboeus Dicite Pierides. Non omnia poſſumus omnes. Ecl. X. Haec ſat erit divae, veſtrum ceciniſſe Poetam, Dum ſedet & gracili fiſcellam texit hibiſco, Pierides. Jmgleichen in dem Gedichte vom Ackerbau ſoll ihm die Muſe was helfen. Geor. IV. Quis Deus hanc Muſae, quis nobis extudit artem, Vnde nova ingreſſus hominum experientia coepit. Horatz iſt hierinn viel beſcheidner geweſen, weil er wohl un- zehliche kleine Oden, Briefe und Satiren gemacht, ohne die Muſen ein einzigmahl anzuruffen. Nur wenn er etwas groͤßeres machen will, dergleichen die IV Ode des III Buches iſt, hebt er an: Deſcende coelo, & dic age tibia, Regina longum Calliope melos. Hieraus iſt leicht zu ſchließen, daß die heutigen Poeten, die in allen elenden Hochzeit- und Leichen-Verßen, die Muſen dabey haben wollen, die Hoheit dieſer Goͤttinnen ſchlecht ver- ſtehen, wenn ſie ſich einbilden, daß ſie ſich um ihrer elenden Kleinigkeiten wegen viel bemuͤhen wuͤrden. Es wuͤrde auch bey

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/172>, abgerufen am 21.11.2024.