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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das V. Capitel
greifen, weil lauter Personen darinn vorkommen, die ge-
wöhnlicher Weise in der Welt zu reden und zu handeln pfle-
gen. Allein die Verwirrungen dieser Fabeln, die mannig-
faltigen Zufälle die ihren Hauptpersonen begegnen, die
großmüthigen oder verzagten Entschlüssungen, so sie dabey
fassen, und andre solche Stücke mehr, machen offt eine sonst
gantz wahrscheinliche Fabel so wunderbar, als ob Bäume
und Thiere mit einander geredet hätten, oder ein halb dutzend
Götter sichtbar erschienen wären.

Wir können also nach dieser Anleitung das Wunder-
bahre in drey Gattungen eintheilen, davon die Erste alles
was von Göttern und Geistern herrühret: die andre, alles
was von Menschen und ihren Handlungen, entsteht: die
dritte was von Thieren und andern leblosen Dingen kommt,
in sich begreift. Alle drey Arten setzen einen Leser oder Zu-
schauer eines Gedichtes in Erstaunen, wenn sie nur wohl er-
sonnen, und glücklich angebracht worden: Alle drey aber
wollen auch nach gewissen Regeln eingerichtet werden, wenn
sie nicht kindisch und lächerlich herauskommen sollen.

Das erste Wünderbare, so die Götter verursachen, ist
wohl zweifelsohne der Beystand den sie dem Poeten selbst lei-
sten. Wir finden daß die Alten nicht nur die Musen son-
dern auch wohl andre Gottheiten, den Jupiter, Phöbus,
Bacchus, Mars, imgleichen die Venus, Diana, Sonne etc.
angeruffen: Doch haben die Erstern allezeit den Vorzug be-
halten, daß man sie vor die eigentlichen Gehülfinnen der
Dichter angenommen. Daher entstunden nun die häufi-
gen Anruffungen derselben, die wir in allen Arten der Gedich-
te antreffen. Die Poeten achteten sichs vor eine Ehre, von
den Musen getrieben und begeistert zu seyn, oder es wenig-
stens zu heißen: ja sie begaben sich fast alles Antheils, so sie
an ihren Sachen hatten, um nur vor göttlich-erleuchtete
Männer gehalten zu werden, die gleich denen Propheten
nicht von sich selbst, sondern aus höherer Eingebung geredet
und geschrieben. Bey der Einfalt der ältesten Völcker war
auch dieses was leichtes. Die dummen Leute, die irgend ei-
nes mittelmäßigen Poeten Verße höreten, dachten gleich:

das

Das V. Capitel
greifen, weil lauter Perſonen darinn vorkommen, die ge-
woͤhnlicher Weiſe in der Welt zu reden und zu handeln pfle-
gen. Allein die Verwirrungen dieſer Fabeln, die mannig-
faltigen Zufaͤlle die ihren Hauptperſonen begegnen, die
großmuͤthigen oder verzagten Entſchluͤſſungen, ſo ſie dabey
faſſen, und andre ſolche Stuͤcke mehr, machen offt eine ſonſt
gantz wahrſcheinliche Fabel ſo wunderbar, als ob Baͤume
und Thiere mit einander geredet haͤtten, oder ein halb dutzend
Goͤtter ſichtbar erſchienen waͤren.

Wir koͤnnen alſo nach dieſer Anleitung das Wunder-
bahre in drey Gattungen eintheilen, davon die Erſte alles
was von Goͤttern und Geiſtern herruͤhret: die andre, alles
was von Menſchen und ihren Handlungen, entſteht: die
dritte was von Thieren und andern lebloſen Dingen kommt,
in ſich begreift. Alle drey Arten ſetzen einen Leſer oder Zu-
ſchauer eines Gedichtes in Erſtaunen, wenn ſie nur wohl er-
ſonnen, und gluͤcklich angebracht worden: Alle drey aber
wollen auch nach gewiſſen Regeln eingerichtet werden, wenn
ſie nicht kindiſch und laͤcherlich herauskommen ſollen.

Das erſte Wuͤnderbare, ſo die Goͤtter verurſachen, iſt
wohl zweifelsohne der Beyſtand den ſie dem Poeten ſelbſt lei-
ſten. Wir finden daß die Alten nicht nur die Muſen ſon-
dern auch wohl andre Gottheiten, den Jupiter, Phoͤbus,
Bacchus, Mars, imgleichen die Venus, Diana, Sonne ꝛc.
angeruffen: Doch haben die Erſtern allezeit den Vorzug be-
halten, daß man ſie vor die eigentlichen Gehuͤlfinnen der
Dichter angenommen. Daher entſtunden nun die haͤufi-
gen Anruffungen derſelben, die wir in allen Arten der Gedich-
te antreffen. Die Poeten achteten ſichs vor eine Ehre, von
den Muſen getrieben und begeiſtert zu ſeyn, oder es wenig-
ſtens zu heißen: ja ſie begaben ſich faſt alles Antheils, ſo ſie
an ihren Sachen hatten, um nur vor goͤttlich-erleuchtete
Maͤnner gehalten zu werden, die gleich denen Propheten
nicht von ſich ſelbſt, ſondern aus hoͤherer Eingebung geredet
und geſchrieben. Bey der Einfalt der aͤlteſten Voͤlcker war
auch dieſes was leichtes. Die dummen Leute, die irgend ei-
nes mittelmaͤßigen Poeten Verße hoͤreten, dachten gleich:

das
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[142/0170] Das V. Capitel greifen, weil lauter Perſonen darinn vorkommen, die ge- woͤhnlicher Weiſe in der Welt zu reden und zu handeln pfle- gen. Allein die Verwirrungen dieſer Fabeln, die mannig- faltigen Zufaͤlle die ihren Hauptperſonen begegnen, die großmuͤthigen oder verzagten Entſchluͤſſungen, ſo ſie dabey faſſen, und andre ſolche Stuͤcke mehr, machen offt eine ſonſt gantz wahrſcheinliche Fabel ſo wunderbar, als ob Baͤume und Thiere mit einander geredet haͤtten, oder ein halb dutzend Goͤtter ſichtbar erſchienen waͤren. Wir koͤnnen alſo nach dieſer Anleitung das Wunder- bahre in drey Gattungen eintheilen, davon die Erſte alles was von Goͤttern und Geiſtern herruͤhret: die andre, alles was von Menſchen und ihren Handlungen, entſteht: die dritte was von Thieren und andern lebloſen Dingen kommt, in ſich begreift. Alle drey Arten ſetzen einen Leſer oder Zu- ſchauer eines Gedichtes in Erſtaunen, wenn ſie nur wohl er- ſonnen, und gluͤcklich angebracht worden: Alle drey aber wollen auch nach gewiſſen Regeln eingerichtet werden, wenn ſie nicht kindiſch und laͤcherlich herauskommen ſollen. Das erſte Wuͤnderbare, ſo die Goͤtter verurſachen, iſt wohl zweifelsohne der Beyſtand den ſie dem Poeten ſelbſt lei- ſten. Wir finden daß die Alten nicht nur die Muſen ſon- dern auch wohl andre Gottheiten, den Jupiter, Phoͤbus, Bacchus, Mars, imgleichen die Venus, Diana, Sonne ꝛc. angeruffen: Doch haben die Erſtern allezeit den Vorzug be- halten, daß man ſie vor die eigentlichen Gehuͤlfinnen der Dichter angenommen. Daher entſtunden nun die haͤufi- gen Anruffungen derſelben, die wir in allen Arten der Gedich- te antreffen. Die Poeten achteten ſichs vor eine Ehre, von den Muſen getrieben und begeiſtert zu ſeyn, oder es wenig- ſtens zu heißen: ja ſie begaben ſich faſt alles Antheils, ſo ſie an ihren Sachen hatten, um nur vor goͤttlich-erleuchtete Maͤnner gehalten zu werden, die gleich denen Propheten nicht von ſich ſelbſt, ſondern aus hoͤherer Eingebung geredet und geſchrieben. Bey der Einfalt der aͤlteſten Voͤlcker war auch dieſes was leichtes. Die dummen Leute, die irgend ei- nes mittelmaͤßigen Poeten Verße hoͤreten, dachten gleich: das

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/170>, abgerufen am 26.04.2024.