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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das IV. Capitel
de derselben gereichen würde; und darinn ist sie von den be-
rühmten Heldengedichten der Alten unterschieden. Meine al-
lererste allgemeine Fabel, und der darinn zum Grunde gelegte
Lehrsatz ließ solches nicht anders zu: Die Regeln des Helden-
gedichtes aber verbieten solches nicht; wiewohl ich es selbst
vor rathsamer achte, löbliche als strafbare Handlungen zu
verewigen. Nichts mehr fehlt bey der also gestalteten Fa-
bel, als die Benennung der Personen. Das steht aber wie-
derum bey mir. Jch suche in der Historie dergleichen Prin-
zen, die sich zu meiner Absicht schicken, und mein Vaterland
ins besondre angehen. Wäre ich ein Grieche von Geburt,
so würde ich mir den Xerxes wehlen, der nach vielen Ge-
waltthätigkeiten in der Marathonischen Schlacht elendiglich
entfliehen müssen. Wäre ich ein Persianer: so würde ich
den großen Alexander nehmen, der nach Eroberung von halb
Asien zu Babylon ein frühes Ende genommen. Wäre ich
ein Römer, so würde Hannibal mein Held werden, der mit
Schimpf und Schande aus Jtalien weichen müssen, als
Scipio seine Hauptstadt in Africa belagerte. Wäre ich
ein alter Gallier, so könnte Attila die Hauptperson meines
Gedichtes abgeben, der in den Catalaunischen Feldern aufs
Haupt geschlagen worden. Weil ich aber itzo in Deutsch-
land lebe; so dörfte ich nur Ludewig den XIV und dessen bey
Höchstädt gedämpften Ubermuth in meinem Gedichte be-
schreiben, und demselben den Titel des herrschsüchtigen Lu-
dewigs, oder eingebildeten Universal-Monarchen geben:
So hätte es in diesem Stücke seine Richtigkeit, und die Ne-
ben-Fabeln, samt allen dazu gehörigen Personen müsten nach
Beschaffenheit der Umstände und Geschichte bequemet, und
also aufs wahrscheinlichste eingerichtet werden.

Aus dem allen erhellet nun sonder Zweifel, wie man mit
Grunde der Wahrheit sagen könne, daß die Fabel das
Hauptwerck in der gantzen Poesie sey; indem die allerwich-
tigsten Stücke derselben einzig und allein darauf ankommen.
Es ist aber auch leicht daraus abzunehmen, mit wie vielem
Grunde Aristoteles von der Dicht-Kunst sagen können, daß
sie philosophischer sey als die Historie, und angenehmer als

die

Das IV. Capitel
de derſelben gereichen wuͤrde; und darinn iſt ſie von den be-
ruͤhmten Heldengedichten der Alten unterſchieden. Meine al-
lererſte allgemeine Fabel, und der darinn zum Grunde gelegte
Lehrſatz ließ ſolches nicht anders zu: Die Regeln des Helden-
gedichtes aber verbieten ſolches nicht; wiewohl ich es ſelbſt
vor rathſamer achte, loͤbliche als ſtrafbare Handlungen zu
verewigen. Nichts mehr fehlt bey der alſo geſtalteten Fa-
bel, als die Benennung der Perſonen. Das ſteht aber wie-
derum bey mir. Jch ſuche in der Hiſtorie dergleichen Prin-
zen, die ſich zu meiner Abſicht ſchicken, und mein Vaterland
ins beſondre angehen. Waͤre ich ein Grieche von Geburt,
ſo wuͤrde ich mir den Xerxes wehlen, der nach vielen Ge-
waltthaͤtigkeiten in der Marathoniſchen Schlacht elendiglich
entfliehen muͤſſen. Waͤre ich ein Perſianer: ſo wuͤrde ich
den großen Alexander nehmen, der nach Eroberung von halb
Aſien zu Babylon ein fruͤhes Ende genommen. Waͤre ich
ein Roͤmer, ſo wuͤrde Hannibal mein Held werden, der mit
Schimpf und Schande aus Jtalien weichen muͤſſen, als
Scipio ſeine Hauptſtadt in Africa belagerte. Waͤre ich
ein alter Gallier, ſo koͤnnte Attila die Hauptperſon meines
Gedichtes abgeben, der in den Catalauniſchen Feldern aufs
Haupt geſchlagen worden. Weil ich aber itzo in Deutſch-
land lebe; ſo doͤrfte ich nur Ludewig den XIV und deſſen bey
Hoͤchſtaͤdt gedaͤmpften Ubermuth in meinem Gedichte be-
ſchreiben, und demſelben den Titel des herrſchſuͤchtigen Lu-
dewigs, oder eingebildeten Univerſal-Monarchen geben:
So haͤtte es in dieſem Stuͤcke ſeine Richtigkeit, und die Ne-
ben-Fabeln, ſamt allen dazu gehoͤrigen Perſonen muͤſten nach
Beſchaffenheit der Umſtaͤnde und Geſchichte bequemet, und
alſo aufs wahrſcheinlichſte eingerichtet werden.

Aus dem allen erhellet nun ſonder Zweifel, wie man mit
Grunde der Wahrheit ſagen koͤnne, daß die Fabel das
Hauptwerck in der gantzen Poeſie ſey; indem die allerwich-
tigſten Stuͤcke derſelben einzig und allein darauf ankommen.
Es iſt aber auch leicht daraus abzunehmen, mit wie vielem
Grunde Ariſtoteles von der Dicht-Kunſt ſagen koͤnnen, daß
ſie philoſophiſcher ſey als die Hiſtorie, und angenehmer als

die
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[138/0166] Das IV. Capitel de derſelben gereichen wuͤrde; und darinn iſt ſie von den be- ruͤhmten Heldengedichten der Alten unterſchieden. Meine al- lererſte allgemeine Fabel, und der darinn zum Grunde gelegte Lehrſatz ließ ſolches nicht anders zu: Die Regeln des Helden- gedichtes aber verbieten ſolches nicht; wiewohl ich es ſelbſt vor rathſamer achte, loͤbliche als ſtrafbare Handlungen zu verewigen. Nichts mehr fehlt bey der alſo geſtalteten Fa- bel, als die Benennung der Perſonen. Das ſteht aber wie- derum bey mir. Jch ſuche in der Hiſtorie dergleichen Prin- zen, die ſich zu meiner Abſicht ſchicken, und mein Vaterland ins beſondre angehen. Waͤre ich ein Grieche von Geburt, ſo wuͤrde ich mir den Xerxes wehlen, der nach vielen Ge- waltthaͤtigkeiten in der Marathoniſchen Schlacht elendiglich entfliehen muͤſſen. Waͤre ich ein Perſianer: ſo wuͤrde ich den großen Alexander nehmen, der nach Eroberung von halb Aſien zu Babylon ein fruͤhes Ende genommen. Waͤre ich ein Roͤmer, ſo wuͤrde Hannibal mein Held werden, der mit Schimpf und Schande aus Jtalien weichen muͤſſen, als Scipio ſeine Hauptſtadt in Africa belagerte. Waͤre ich ein alter Gallier, ſo koͤnnte Attila die Hauptperſon meines Gedichtes abgeben, der in den Catalauniſchen Feldern aufs Haupt geſchlagen worden. Weil ich aber itzo in Deutſch- land lebe; ſo doͤrfte ich nur Ludewig den XIV und deſſen bey Hoͤchſtaͤdt gedaͤmpften Ubermuth in meinem Gedichte be- ſchreiben, und demſelben den Titel des herrſchſuͤchtigen Lu- dewigs, oder eingebildeten Univerſal-Monarchen geben: So haͤtte es in dieſem Stuͤcke ſeine Richtigkeit, und die Ne- ben-Fabeln, ſamt allen dazu gehoͤrigen Perſonen muͤſten nach Beſchaffenheit der Umſtaͤnde und Geſchichte bequemet, und alſo aufs wahrſcheinlichſte eingerichtet werden. Aus dem allen erhellet nun ſonder Zweifel, wie man mit Grunde der Wahrheit ſagen koͤnne, daß die Fabel das Hauptwerck in der gantzen Poeſie ſey; indem die allerwich- tigſten Stuͤcke derſelben einzig und allein darauf ankommen. Es iſt aber auch leicht daraus abzunehmen, mit wie vielem Grunde Ariſtoteles von der Dicht-Kunſt ſagen koͤnnen, daß ſie philoſophiſcher ſey als die Hiſtorie, und angenehmer als die

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/166>, abgerufen am 20.04.2024.