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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von den Poetischen Nachahmungen.
die Philosophie. Ein Gedichte hält in der That das Mittel
zwischen einem moralischen Lehrbuche, und einer wahrhafften
Geschicht. Die gründlichste Sittenlehre ist vor den großen
Haufen der Menschen viel zu mager und trocken. Denn die
Schärfe in Vernunftschlüssen ist nicht vor den gemeinen
Verstand unstudirter Leute. Die nackte Wahrheit gefällt
ihnen nicht; Es müssen philosophische Köpfe seyn, die sich
daran vergnügen. Die Historie aber, so angenehm sie selbst
den Ungelehrten zu lesen ist, so wenig ist sie ihnen erbaulich.
Sie erzehlt lauter besondre Begebenheiten, die sich das tau-
sendste mahl nicht auf den Leser schicken, und wenn sie sich
gleich ohngefehr einmahl schickten, dennoch viel Verstand
zur Ausdeutung bey ihm erfordern würden. Die Poesie
hergegen ist so erbaulich als die Moral, und so angenehm als
die Historie; sie lehret und belustiget, und schicket sich vor
Gelehrte und Ungelehrte: darunter jene die besondre Ge-
schicklichkeit des Poeten, als eines künstlichen Nachahmers
der Natur, bewundern; diese hergegen einen beliebten und
lehrreichen Zeitvertreib in seinen Gedichten finden.

Ein jeder sieht wohl, daß die gemeinen Romane in einer
so löblichen Absicht nicht geschrieben sind. Jhre Verfasser
verstehen offt die Regeln der Poesie so wenig, als die wahre
Sittenlehre; daher ist es kein Wunder wenn sie einen ver-
liebten Labyrinth in den andern bauen, und eitel Thorheiten
durch einander flechten, ihre wollüstige Leser noch üppiger zu
machen und die Unschuldigen zu verführen. Wenn sie er-
baulich seyn sollten, müsten sie nach Art eines Heldengedich-
tes abgefasset werden, wie Heliodorus, Longus, Cervantes
und Fenelon gethan. Zieglers Banise ist bey uns Deutschen
noch der allerbeste Roman, das macht daß er in wenigen
Stücken von den obigen Regeln abweicht: kan auch daher
von verständigen und Tugendliebenden Gemüthern mit Lust
und Nutzen gelesen werden.

Jndessen darf niemand dencken, die Fabel wäre bloß
allein in den großen Gattungen der Gedichte brauchbar, und
müste also nicht vor was allgemeines ausgegeben werden.
Man kan sie überall anwenden, und in allen kleinern Arten

der

Von den Poetiſchen Nachahmungen.
die Philoſophie. Ein Gedichte haͤlt in der That das Mittel
zwiſchen einem moraliſchen Lehrbuche, und einer wahrhafften
Geſchicht. Die gruͤndlichſte Sittenlehre iſt vor den großen
Haufen der Menſchen viel zu mager und trocken. Denn die
Schaͤrfe in Vernunftſchluͤſſen iſt nicht vor den gemeinen
Verſtand unſtudirter Leute. Die nackte Wahrheit gefaͤllt
ihnen nicht; Es muͤſſen philoſophiſche Koͤpfe ſeyn, die ſich
daran vergnuͤgen. Die Hiſtorie aber, ſo angenehm ſie ſelbſt
den Ungelehrten zu leſen iſt, ſo wenig iſt ſie ihnen erbaulich.
Sie erzehlt lauter beſondre Begebenheiten, die ſich das tau-
ſendſte mahl nicht auf den Leſer ſchicken, und wenn ſie ſich
gleich ohngefehr einmahl ſchickten, dennoch viel Verſtand
zur Ausdeutung bey ihm erfordern wuͤrden. Die Poeſie
hergegen iſt ſo erbaulich als die Moral, und ſo angenehm als
die Hiſtorie; ſie lehret und beluſtiget, und ſchicket ſich vor
Gelehrte und Ungelehrte: darunter jene die beſondre Ge-
ſchicklichkeit des Poeten, als eines kuͤnſtlichen Nachahmers
der Natur, bewundern; dieſe hergegen einen beliebten und
lehrreichen Zeitvertreib in ſeinen Gedichten finden.

Ein jeder ſieht wohl, daß die gemeinen Romane in einer
ſo loͤblichen Abſicht nicht geſchrieben ſind. Jhre Verfaſſer
verſtehen offt die Regeln der Poeſie ſo wenig, als die wahre
Sittenlehre; daher iſt es kein Wunder wenn ſie einen ver-
liebten Labyrinth in den andern bauen, und eitel Thorheiten
durch einander flechten, ihre wolluͤſtige Leſer noch uͤppiger zu
machen und die Unſchuldigen zu verfuͤhren. Wenn ſie er-
baulich ſeyn ſollten, muͤſten ſie nach Art eines Heldengedich-
tes abgefaſſet werden, wie Heliodorus, Longus, Cervantes
und Fenelon gethan. Zieglers Baniſe iſt bey uns Deutſchen
noch der allerbeſte Roman, das macht daß er in wenigen
Stuͤcken von den obigen Regeln abweicht: kan auch daher
von verſtaͤndigen und Tugendliebenden Gemuͤthern mit Luſt
und Nutzen geleſen werden.

Jndeſſen darf niemand dencken, die Fabel waͤre bloß
allein in den großen Gattungen der Gedichte brauchbar, und
muͤſte alſo nicht vor was allgemeines ausgegeben werden.
Man kan ſie uͤberall anwenden, und in allen kleinern Arten

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[139/0167] Von den Poetiſchen Nachahmungen. die Philoſophie. Ein Gedichte haͤlt in der That das Mittel zwiſchen einem moraliſchen Lehrbuche, und einer wahrhafften Geſchicht. Die gruͤndlichſte Sittenlehre iſt vor den großen Haufen der Menſchen viel zu mager und trocken. Denn die Schaͤrfe in Vernunftſchluͤſſen iſt nicht vor den gemeinen Verſtand unſtudirter Leute. Die nackte Wahrheit gefaͤllt ihnen nicht; Es muͤſſen philoſophiſche Koͤpfe ſeyn, die ſich daran vergnuͤgen. Die Hiſtorie aber, ſo angenehm ſie ſelbſt den Ungelehrten zu leſen iſt, ſo wenig iſt ſie ihnen erbaulich. Sie erzehlt lauter beſondre Begebenheiten, die ſich das tau- ſendſte mahl nicht auf den Leſer ſchicken, und wenn ſie ſich gleich ohngefehr einmahl ſchickten, dennoch viel Verſtand zur Ausdeutung bey ihm erfordern wuͤrden. Die Poeſie hergegen iſt ſo erbaulich als die Moral, und ſo angenehm als die Hiſtorie; ſie lehret und beluſtiget, und ſchicket ſich vor Gelehrte und Ungelehrte: darunter jene die beſondre Ge- ſchicklichkeit des Poeten, als eines kuͤnſtlichen Nachahmers der Natur, bewundern; dieſe hergegen einen beliebten und lehrreichen Zeitvertreib in ſeinen Gedichten finden. Ein jeder ſieht wohl, daß die gemeinen Romane in einer ſo loͤblichen Abſicht nicht geſchrieben ſind. Jhre Verfaſſer verſtehen offt die Regeln der Poeſie ſo wenig, als die wahre Sittenlehre; daher iſt es kein Wunder wenn ſie einen ver- liebten Labyrinth in den andern bauen, und eitel Thorheiten durch einander flechten, ihre wolluͤſtige Leſer noch uͤppiger zu machen und die Unſchuldigen zu verfuͤhren. Wenn ſie er- baulich ſeyn ſollten, muͤſten ſie nach Art eines Heldengedich- tes abgefaſſet werden, wie Heliodorus, Longus, Cervantes und Fenelon gethan. Zieglers Baniſe iſt bey uns Deutſchen noch der allerbeſte Roman, das macht daß er in wenigen Stuͤcken von den obigen Regeln abweicht: kan auch daher von verſtaͤndigen und Tugendliebenden Gemuͤthern mit Luſt und Nutzen geleſen werden. Jndeſſen darf niemand dencken, die Fabel waͤre bloß allein in den großen Gattungen der Gedichte brauchbar, und muͤſte alſo nicht vor was allgemeines ausgegeben werden. Man kan ſie uͤberall anwenden, und in allen kleinern Arten der

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/167>, abgerufen am 26.04.2024.